antisemitismus
: In der Mitte tickt die Uhr

Es hilft nicht viel, wenn der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, in einem Interview aus Anlass der Pogromnacht erklärte, es sei „fünf vor zwölf“, was das Wachstum der neonazistischen Gefahr in Deutschland angeht. Solche Warnungen, vor allem wenn sie regelmäßig vorgebracht werden, rufen auch beim gutwilligen Adressaten Widerwillen hervor, stumpfen ihn ab. Aber Vorsicht! Auf das Wort „Alarmismus“, kaum dass es 1992 von Journalisten zur Abqualifizierung der ewigen Warner vor Rassismus und Ausländerfeindlichkeit kreiert wurde, folgte binnen Wochenfrist das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. So kann man sich irren, wenn man nur bequem genug denkt und nicht willens ist, Zeichen zu deuten.

KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER

Mag sein, dass Spiegels Metapher die Lage nicht trifft. Worauf er aber mit vollem Recht aufmerksam machen will, ist die vollkommen unzureichende Reaktion der demokratischen Öffentlichkeit auf die Offensive neonazistischer und rassistischer Gruppierungen gerade in den letzten Wochen. Soll man etwa die Wahlerfolge der NPD in Sachsen als quasi unvermeidliche Reaktion sozial diskriminierter Gruppen abtun? Damit wäre die eigentliche Botschaft dieser Wahl verfehlt: die breite Zustimmung „ordentlicher“, angeblich jedem Extrem abholder Bürger zu einem offen rassistischen Programm; die Eingemeindung der nazistischen Kameradschaften in die Dorf- oder Stadtgemeinschaft – und dies keineswegs nur in Sachsen.

Der Rechtsradikalismus, besonders seine terroristische Speerspitze, lebt davon, sich an Ängste, Abgrenzungswünsche und Verschwörungsphantasmen aus der Mitte der Gesellschaft anzuschließen. Sollte es einer Koalition von Rechtsradikalen gelingen, bei der nächsten Bundestagswahl zu reüssieren, werden wir wieder hören, dass dieses Kartenhaus zusammenfallen werde, weil seine Konstrukteure politikunfähig sind. Und wenn nicht?

Tatsächlich ist es vorstellbar, dass sich der Rechtsradikalismus auf Bundesebene als reputierliche Kraft etabliert, dass ihm statt der bisherigen Dumpfbacken adrette junge Leute eine politische Form geben. „Das sind gute Jungs.“ „Das sind welche von uns.“ „Wo die sind, wird nichts mehr geklaut.“ Wenn sich solches Denken auch in der Mitte der Gesellschaft festsetzt und die Kritik daran sich in Phrasen erschöpft, ist es tatsächlich fünf vor zwölf.

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