Zweierlei Sehen

Hier die nur an Zahlen und Ergebnissen orientierte Holdinggesellschaft, dort die Intelligenz der Standorte, auf die der Investor aber immer wieder setzen muss: Bei General Motors und Opel fehlt es an einem Blick auf die Kontingenz der Verhältnisse, auf die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte

Bei Opel hat man zu spät gemerkt, dass der, der hält, auch fallen lassen kann

VON DIRK BAECKER

Nur wenige Kilometer Luftlinie vom Bochumer Opelwerk entfernt lehrt an der kleinen privaten Universität Witten/Herdecke der Toxikologe und Pharmakologe Professor Dr. Hans Peter Bertram. Er ist unter den Studenten dieser Universität berühmt wegen seiner so genannten Naturausflüge, die meistens schon am ersten Grashalm, den man zu sehen bekommt, am ersten Baum, der am Wege steht, enden, weil es, wie er sagt, nur zweierlei zu lernen gibt: Wir sehen nicht, was wir sehen, und wir rechnen nicht damit, dass alles anders sein könnte, als es aussieht.

Deswegen legen sich die Studenten bäuchlings vor den Grashalm und beschnuppern ihn von allen Seiten. Und deswegen rücken sie der Rinde des Baums mit Lupen zu Leibe, bis sie Dinge sehen, Strukturen, Farben, Muster, die sie so noch nie zuvor gesehen haben. Bertrams Naturausflüge sind besonders unter Zahnmedizinern beliebt, und irgendwie finde ich es beruhigend, dass hier Leute ausgebildet werden, die anschließend in der Lage sind, sich meine Zähne anders anzuschauen, als ich es selbst gewohnt bin.

Man wünscht sich, dass Management und Belegschaft der Opel-Werke rechtzeitig bei Professor Bertram in die Lehre gegangen wären. Denn so vertraut und gewohnt die Routinen bei Opel auch gewesen sein mögen, offensichtlich fehlte es an einem Blick auf die Kontingenz der Verhältnisse, auf die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte, und auf die dementsprechende Notwendigkeit, rechtzeitig einen Blick zu schulen, der sich die Sachverhalte auch anders anschauen kann, als sie sich auf den ersten und zweiten Blick jeweils darstellen. Es braucht einen geschulten Blick, um an gesunden Zähnen den Hang zur Karies zu erkennen.

Natürlich gibt es geschulte und kundige Leute bei Opel auf allen Ebenen und in allen Funktionen. Es gibt Spezialisten für Lacke, für Bremsen, für Controlling, für Produktionsplanung, für Personalführung, für die Vertreter von Arbeiterinteressen, für die Kontaktpflege mit General Motors und für das Gespräch mit den Gewerkschaften, den Politikern und den Journalisten, die alle, so würde ich unterstellen, in der Lage sind, sich die Dinge von allen Seiten anzuschauen und dem ersten Blick einen zweiten, dritten und vierten hinterherzuschicken. Doch woran es fehlt, ist deren Gespräch miteinander.

Jeder von ihnen, so würde ich ebenfalls unterstellen, behält die Kontingenz, die er sieht, für sich und spielt den anderen die Notwendigkeit vor, an die diese glauben sollen, damit jeder Einzelne sich auf seine Arbeit konzentrieren kann. Deswegen empfehle ich die Schulung durch Professor Bertram: um zu lernen, dass Kontingenz für alle gilt und dass wir uns dringend darum bemühen müssen, eine Sprache zu erlernen, in der wir unsere Kontingenzbeobachtungen austauschen können, ohne uns ständig gegenseitig auf die Füße und ans Schienenbein zu treten.

Wenn es zu spät ist, wissen wir alle sofort, was zu tun ist: Man muss die Manager entlassen, die nicht rechtzeitig erkannt haben, dass die Dinge sich ändern, und man muss die Konsumenten wieder einfangen, die zur Konkurrenz übergelaufen sind. Aber wer entlässt die Manager, so war vor genau hundert Jahren in dem Buch über die Theorie des Wirtschaftsunternehmens die hellsichtige Frage des amerikanischen Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen? Und wer fängt die Konsumenten wieder ein? Wer macht ihnen klar, so mit einem anderen Stichwort von Veblen, dass kein Konsum ehrenvoller ist als der der im eigenen Land produzierten Güter?

Wenn man die Fragen so zugespitzt stellt, merkt man, welche Fallen in ihnen lauern. In der europäischen Wirtschaft haben wir uns angewöhnt, die Manager nicht zu entlassen, sondern ihre Märkte zu schützen. Die entsprechenden Warnungen von Adam Smith haben wir in den Wind geschlagen. Dieser Typ von Problemlösung empfahl sich umso mehr, als er zwar nicht geeignet ist, die Konsumenten wieder einzufangen, aber sie immerhin daran hindert wegzulaufen.

Die Globalisierung zieht unter diesen Typ von Lösung einen Schlussstrich. Kapitalmärkte und Holdingstrukturen sind ein machtvolles, wenn auch vielleicht immer noch nicht hinreichend machtvolles Instrument, das es erlaubt, Manager zu entlassen, wenn sie für unzureichende Gewinne verantwortlich gemacht werden können. Und Kapitalmärkte dank solcher Agenten wie venture capitalists, private equity companies und anderer Formen ungebundener Investoren sind über die Holdingstrukturen, auf die sie einwirken, ein ebenso machtvolles, wenn auch vielleicht zu machtvolles Instrument, um jene Unternehmen durch Personal und Kapital zu belohnen, denen es gelungen ist, ihre Konsumenten zu halten, und jene anderen zu bestrafen, denen das nicht gelungen ist.

Aber was heißt das für Opel? Opel hat geglaubt, sich bei General Motors in die schützenden Arme einer Holding begeben zu können, die dort für Kapital sorgt, wo der jeweilige Standort das nicht mehr kann, und so ein Personal sichert, das, ja, das zu spät gemerkt hat, dass derjenige, der hält, auch fallen lassen kann.

Die Holding hat auch nicht den blassesten Schimmer davon, mit welchen Kontingenzen im Umgang mit der Technik, der Produktion und den Märkten die Standorte Rüsselsheim und Bochum vor Ort zu kämpfen haben. Sie schaut sich nur die Ergebnisse an und urteilt entsprechend. Allenfalls abstrakt darf man damit rechnen, dass es so etwas wie den Respekt vor den Fähigkeiten des anderen gibt. Aber das rettet Opel nicht. Was es retten würde und gerettet hätte, ist die Einsicht, dass es die eigenen Manager und die eigenen Konsumenten vor Ort sind, die man tagtäglich keine Minute aus der Verantwortung lassen darf, sich alles auch anders vorstellen zu können, damit mit dem Blick darauf gute Gründe gefunden werden können, so oder anders weiterzumachen.

Die Unternehmen in Rüsselsheim, Bochum und andernorts sind nur durch die Entwicklung einer Kontingenzkultur zu retten, die sich rechtzeitig und im Vorgriff alles anders vorstellen kann und deswegen eine Sprache, einen Modus der Konfliktaustragung, eine Intelligenz der Produktvariation und der Produktionsneugestaltung entwickelt, die aus dem Kontakt mit dem Markt lebt und die Manager dafür verantwortlich macht, nicht nur den Überblick über ihre eigenen Karrierechancen zu behalten, sondern auch den Überblick über neue Produktionschancen.

Es macht keinen Sinn, über diesen Holdingkapitalismus zu jammern. Es macht nur Sinn, sich anzuschauen, dass damit der alte Konflikt zwischen Arbeit und Kapital auf eine neue Ebene, auf die Ebene eines Konflikts zwischen investivem Kapital und produktivem Kapital, gehoben worden ist, die in unterschiedlichen Zeithorizonten rechnen (wenn der eine noch entwickeln will, hat der andere bereits die Zuversicht verloren), aber nur so in der Lage sind, den Konsumenten wieder zu finden, wenn er abgewandert ist, und dem Manager klar zu machen, welche Projekte aussichtsreich sind.

Die Pointe an diesem neuen Spiel ist, dass es die Intelligenz der Standorte ist, auf die der Investor wettet. Ohne die Produktion vor Ort hätte der Holdingkapitalismus nichts, woran er sich orientieren könnte. Und genau deswegen müssen wir den Schutz der Nationalstaaten und Wirtschaftsräume genau so dosiert abbauen, dass den Standorten klar wird, worin ihre neuen Möglichkeiten bestehen, und sie die ihnen noch verbleibende Zeit nutzen, sich auf eine Wirtschaft einzustellen, die keine Versorgungswirtschaft (der Kunden mit Gütern, der Arbeiter mit Arbeitsplätzen, der Manager mit Karrierechancen, der Regierung mit Steuerzahlern und der Eigentümer mit den dann noch verbleibenden Gewinnen) mehr ist, sondern eine Statuswirtschaft, wie die Ökonomen leicht missverständlich sagen, nämlich eine Wirtschaft, in der der Status jedes Einzelnen bedroht ist.

Am Grashalm und an der Baumrinde können wir lernen, dass wir uns nicht darauf verlassen sollten, dass alles so ist, wie es ist. Jedes Phänomen, das sich scheinbar so ruhig unseren Blick darbietet (und zugleich entzieht), ist in Wirklichkeit ein unruhiger Rechenvorgang, der Minute für Minute, Tag für Tag, Woche für Woche neu herausfinden muss, ob der Stand, den man gerade noch hatte, auch weiterhin verlässlich ist. Und noch einmal: Jeder Kaufmann, Handwerker, Techniker, Beamte, Lehrer ganz individuell weiß das nur zu gut; aber als kollektives Wissen ist es uns abhanden gekommen; und als Sprache steht es uns nicht mehr zur Verfügung.