Der subjektive Blick

Mithilfe von Biografiearbeit werden demenzkranke Menschen in ihre Umgebung integriert. Auch epochale Veränderungen wie die Wende 1989 können mit dieser Technik aufgearbeitet werden. Rudolf Steiner befasste sich bereits 1903 mit ihr

VON KLAUS BABEL

Auf den ersten Blick könnte es besser kaum sein: Das Leben wird immer bequemer und die Menschen immer älter. Aber die frohe Kunde hat einen Haken: Je älter Menschen werden, desto häufiger erkranken sie an Alzheimer oder anderen Demenzformen. Biografiearbeit schlägt eine Brücke in die Vergangenheit und aktiviert Demenzkranke.

„Einem ehemaligen Pastor, der in einem Pflegeheim lebt, und völlig apathisch war, konnte durch Biografiearbeit geholfen werden“, berichtet Susanne Saxl vom Informationsdienst der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. „Sein Zimmer wurde ähnlich wie sein altes Pfarrbüro eingerichtet und er hat anderen Patienten regelmäßig die Beichte abgenommen.“ Weil Demenzkranke innerlich in ihrer Biografie rückwärts gehen, müssen sie dort abgeholt werden. Psychobiografische Arbeit hinterfragt deshalb zunächst, welche Erlebnisse und Ereignisse einen Menschen geprägt haben und welche Fähigkeiten demzufolge bei dieser Person wieder geweckt werden können.

Dabei werden unterschiedliche Wege beschritten: In Gruppen, die biografisch arbeiten, erzählen die Teilnehmer etwa aus ihrer Schulzeit. Alte Gedichte werden rezitiert oder Geschichten von Lehrern mit Rohrstöcken erinnert. Auch Musik ist ein gutes Mittel, Vergangenes – vor allem auch Emotionen – wieder hervorzuholen. Oft sind es unspektakuläre Dinge, die Wirkung zeigen: „Es gibt Pflegekräfte, die auf Flohmärkten alte Dinge kaufen und sich von den Patienten erklären lassen, was das denn für Gerätschaften sind, wozu sie seinerzeit gebraucht wurden und wie sie funktionieren“, erzählt Saxl.

„Jede Erinnerung ist mit Gefühlen verbunden und Gefühle prägen unser Verhalten“, sagt Drenhaus-Wagner. „Biografische Arbeit hilft, die Bedürfnissignale anderer Menschen zu entschlüsseln.“ Die Vorsitzende der Alzheimer Angehörigen-Initiative nennt ein Beispiel: „Eine Frau, die ihre Mutter pflegen wollte, wurde von dieser regelmäßig geschlagen und konnte sich das nicht erklären.“ Des Rätsels Lösung: Die Tochter sieht dem Vater ähnlich und die Ehe der Eltern war eine unglückliche. „Deshalb“, so Drenhaus-Wagner, „hat die Mutter sich an der Tochter abreagiert, weil sie gar nicht mehr realisierte, wer ihr Gegenüber ist.“ Eine Perücke über dem kurzen Haar der Tochter schaffte Abhilfe.

Ihren wissenschaftlichen Ursprung hat die Biografiearbeit in der Pathografie, die die Entstehungsgeschichte einer Krankheit nachvollzieht. Doch meist geht es um mehr: „In der Altersforschung ist Biografik gar nicht mehr wegzudenken“, erläutert Uwe Kleinemas, Diplompsychologe und Altersforscher an der Universität Bonn. Eltern, aber auch epochale Ereignisse prägen jeden Menschen sehr stark. „Stile der Bewältigung bilden sich früh im Leben heraus und werden dann immer wieder angewandt“, sagt Kleinemas. Anders als in Therapien analysierten Altersforscher die Ursachen und arbeiteten mit keinem theoretischen Modell. Die Lebenslaufanalyse findet das individuelle heraus, die subjektive Sicht der Betroffenen.

Biografiearbeit ist auch ein Gegenstand der Anthroposophie. Mit dem Thema hat sich Rudolf Steiner in seinen frühen und erneut in seinen späten Werken auseinander gesetzt. Dabei schlug er den Bogen weiter als andere: „Jedes Seelische entsteht aus Seelischem“ war seine These bereits 1903 in seinem Aufsatz „Reinkarnation und Karma, vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen“. Damit legte er den Grundstein für seine Anthroposophische Geisteswissenschaft, die beinhaltet, dass der Mensch immer wieder geboren wird. Biografiearbeit heißt im anthroposophischen Sinne: Die Geburt als Ursprung dieses einen Lebens zu begreifen, aber gleichzeitig den Blick auf frühere und künftige Leben zu werfen. So wird jede Biografie ein Glied in einer Kette von wiederholten Erdenleben mit dazwischen liegenden Besinnungspausen in der geistigen Welt.

„Fast jeder Mensch hatte bei einer Begegnung oder dem Besuch in einem fremden Land schon einmal das Gefühl: Wir kennen uns schon, das kommt mir bekannt vor“, sagt Angela Mickley, Professorin für Ökologie, Konfliktmanagement/Mediation und Friedenserziehung an der Fachhochschule Potsdam. „Das können Zeichen dieses Phänomens sein.“ Mickley nutzt Biografiearbeit beim Konfliktmanagement, etwa bei der Aufarbeitung von Exilerfahrungen von Menschen in Namibia. Aber auch direkt vor der Haustür gebe es Bedarf: „Viele Menschen aus Ostdeutschland haben die Wende von 1989 psychisch noch gar nicht verdaut.“

Eine 13-monatige Fortbildung in Biografieberatung bietet die „Werkstatt Kreative Entwicklung“ aus Berlin. Beginn Ende Oktober. „Die Teilnehmer kommen aus unterschiedlichen Wirkungsbereichen“, berichtet Annette Kurz, eine der Veranstalterinnen. „Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Angaben zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zielen darauf hin, dem individuellen Menschen das Bewusstsein seines geistigen, sozialen und irdisch-physischen Wesens zu öffnen“, sagt Hellmuth ten Siethoff, der die Seminare leitet. „Unsere Weiterbildung bietet Erkenntnisse und Methoden an, vertieft sie in Übungen und gibt jedem Interessierten die Möglichkeit, diese in sein Leben und seine Arbeit zu integrieren.“