Ein Fremder mit Ortskenntnissen

Als Kind einer jüdischen Familie floh Victor Schneider 1938 nach England. Heute heißt er Victor Simons. Zu einem Jahrestag des Abiturs, das er nicht ablegen konnte, lud man ihn nach Berlin ein. Seitdem kommt er alle zwei Jahre zum Klassentreffen

Wer als Jude an Dörfer kommt, wo steht „Juden unerwünscht“, lernt, sich unauffällig zu machen

VON FRIEDERIKE GRÄFF

„Buddeln“, sagt Victor Simons, „es ist so lange her, dass ich dieses Wort gebraucht habe.“ Deutsch spricht er selten, es gibt keine Gelegenheit und auch keinen Grund dazu. Nur am Telefon mit alten Klassenkameraden benutzt er es und alle zwei Jahre beim Klassentreffen in Berlin. Victor Simons ist in einer großbürgerlichen jüdischen Familie als Victor Schneider aufgewachsen, bis 1938 ist er auf das Französische Gymnasium in Berlin gegangen, dann ist er nach England geflohen, ohne den Wunsch, jemals zurückzukommen. Er erzählt all das mit freundlicher Zurückhaltung, ohne jeden Akzent. Er ist das, was man einen Gentleman nennt.

Meine beiden Großväter waren Rechtsanwälte, mein Vater war Rechtsanwalt, es war also eine gut bürgerliche Familie. Als es meinen Eltern noch gut ging, hatten wir eine Köchin, ein Hausmädchen und einen Chauffeur. Mein Großvater und mein Vater hatten viele amerikanische und englische Klienten, deshalb nannte man meinen Großvater auch den englischen Schneider. Sie hatten einen großen Klientenkreis, das nahm allerdings ab, als es nicht mehr modisch war, einen jüdischen Anwalt zu haben. Was wollten sich die Klienten mit einem Anwalt abquälen, dem gegenüber die Leute, mit denen er verhandeln musste, ablehnend waren? Es war mir auch als Kind völlig klar, dass die Nazis uns nicht gut gesinnt waren, auch wenn ich zu dieser Zeit nicht wusste, dass mein Vater 1933 festgenommen worden war. Er war zehn Tag in Schutzhaft, so genannter Schutzhaft, weil er sich einmal zu oft offen geäußert hatte. Sein lieber Sozius hat ihn denunziert. Den Namen weiß ich noch, aber ich will ihn nicht nennen, de mortibus nil nisi bene, und über ihn kann ich nichts Gutes sagen.

Ich habe das Französische Gymnasium besucht, unter jüdischen Eltern war die Einschulung dort schon Mitte des 19. Jahrhunderts begehrt. Fanatischer Nationalsozialismus war da einfach nicht am Platz, man kann so etwas betonen oder von diesen Sachen schweigen, und ich nehme an, dass unser Direktor schwieg, soweit er konnte. Man muss natürlich bedenken, dass unter den Schülern und vielleicht auch unter den Eltern besessene Nazis waren. Meine Mitschüler mussten alle ins Jungvolk, stramm stehen, singen, turnen. Wenn sie sich beklagten, gingen sie zum Juden, weil sie wussten, dass er es nicht weitergeben würde. Der Unterricht war, auch mit Hinsicht auf die vielen ausländischen Diplomatenkinder, sagen wir: rasseneutral. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von irgendjemandem „Dreckjude“ genannt worden wäre. Wobei die Sachen, die vorgeschrieben waren, Hitlerporträt und Hitlergruß, natürlich befolgt wurden. Uns jüdischen Schülern war bewusst, dass die Nazis den Juden gegenüber böse gesinnt waren. Man versteckte seine Gefühle und passte auf, nicht aufzufallen.

Nach der „Kristallnacht“ wurde Vater ins Konzentrationslager Sachsenhausen abgeholt, er kam Ende Dezember 1938 wieder nach Hause. Er war Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg gewesen, er hatte das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, das Ehrenkreuz und Verwundetenabzeichen. Die Nazis waren jüdischen Frontkämpfern ursprünglich gegenüber nicht so feindselig wie gegenüber anderen. Meine Mutter ging mit dem Militärpass und den Ehrenabzeichen zur Behörde, wahrscheinlich zur Gestapo. Nach mehreren Wochen kam mein Vater schwer krank zurück, ob man ihn verprügelt hat, weiß ich nicht, aber ich nehme es an.

In der Zwischenzeit hatte meine Mutter die Auswanderung weiter vorbereitet. Die Vorbereitungen gab es schon monatelang, mein Vater hat durch seine beruflichen Verbindungen eine Einwanderungsnummer für Amerika und ein Transitvisum für England bekommen. Meine Mutter hat bei einer Konfektmacherin gelernt, Konfekt zu machen. Es war so, dass die Konfektmacher, bei denen der Umsatz nicht gut war, Leute, die auswandern wollten, als Lehrlinge nahmen. Konfektmachen war eine tragbarere ökonomische Grundlage als Recht und Nationalökonomie.

Wenn man Kinder hatte, versuchte man, erst einmal sie herauszukriegen. Im Dezember 1938 fingen die Kindertransporte an, und auch ich kam mit einem solchen Kindertransport nach England. Meine Eltern folgten mir im Frühjahr 1939. Die Mehrzahl der Kinder wurde auf Heime in England verteilt, aber ich hatte ein bestimmtes Ziel, ich sollte ins Internat. Dort war ich ein bisschen exotisch. Ich konnte weder einen Fußball gerade schießen noch einen Tennis- oder Kricketball gerade lenken. Die Tradition war auf eine Militär- oder Universitätslaufbahn eingestellt, teilweise auch auf Landbesitz. All das war mir verschlossen. Meine Eltern hatten mir eingepaukt, so unauffällig wie möglich zu sein. 1938 hatten sie mich in den Ferien zu Bekannten nach Bayern geschickt, und wenn man als Jude überall an Dörfer kommt, an deren Ortsgrenze „Juden unerwünscht“ steht, dann lernt man, sich unauffällig zu machen.

Während ich im Internat war, wurden meine Eltern von einem früheren Klienten finanziell unterstützt. Mein Vater hat angefangen, kochen zu lernen. Er war körperlich nicht geschickt, und das wurde noch beeinflusst von seiner Kriegswunde, aber was immer er anpackte, packte er mit Interesse an. Er lernte, sehr gut zu kochen. Mein Vater war ein sehr intelligenter Mann, sozialistisch eingestellt, und obwohl ein Teil der Familie aus einem sehr wohlhabenden Bankhaus stammte, war es keine Frage, dass wir uns anpassten mussten an die Situation. Auch meine Mutter lernte kochen. Als wir 1936 kein Mädchen mehr haben durften, hatte sie ja auch erst einmal lernen müssen, einen Haushalt zu führen. 1940 wurde mein Vater interniert, das war sehr schwer für uns alle. Als er wieder freikam und das Arbeitsverbot für die Flüchtlinge aufgehoben wurde, haben sich meine Eltern als Koch und Hausmädchen beworben, da waren sie 49 und 46 Jahre alt. An einer Stelle waren sie 2 Jahre, es war ein großes Haus, und die Arbeitgeber erlaubten mir während der Ferien, dort zu sein. Meine Eltern lebten damals aus ihren Koffern, sie hatten keine feste Adresse. Erst 1949, als sie mit einem Darlehen das Café kauften, hatten sie wieder eine. Es war ein etwas besseres Arbeitercafé, mein Vater war an den Kunden sehr interessiert, er war überhaupt sehr an Menschen interessiert. Das Café war schwere Arbeit, sie mussten es lange offen halten, um das Geld zu verdienen. 1948 war ich schon Student, ich studierte Bergbau und hatte ein Stipendium. Jedes Vierteljahr bekam ich das Geld und konnte es meinem Vater für die Strom- und Gasrechnung leihen. Am Ende des Quartals gab er es mir dann zurück. Als mein Vater 1955 starb, konnte meine Mutter das Café nicht aufrechterhalten, sie hat dann wieder gekocht, bis sie das Entschädigungsgeld aus Deutschland bekam.

1982 kam ein Brief gänzlich unerwartet, der mich zum Treffen anlässlich des 40. Jahrestages unseres – wegen des Krieges – nicht stattgefundenen Abiturs einlud. Die Namen, die darin vorgeschlagen waren, waren mir alle sehr sympathisch, zumindest nicht unsympathisch, und so habe ich entschieden: Ja, ich will kommen. Als ich kam, wurde ich so herzlich begrüßt, dass es eigentlich keine Befangenheit gab. Wir haben über unsere Erlebnisse in den Zwischenjahren gesprochen, auch über unsere Kriegserfahrungen. Dass die Nazizeit ihnen unsympathisch gewesen war, war ganz unzweideutig. In Berlin war ich bei diesem Besuch sozusagen als Fremder mit Ortskenntnissen. Ich habe damals einige Xenophobie gespürt, bei einer Frau, die sich sehr gegen die Türken ausgesprochen hat, das war mir sehr unsympathisch. Was mir später nicht gefallen hat und immer noch nicht gefällt, ist dieser Größenwahn, mit dem Berlin nach dem Fall der Mauer wieder aufgebaut worden ist. Ich bin heute Engländer. Ich habe deutsche Freunde, aber ich habe nicht das Gefühl, Deutscher zu sein, nein.