Serben sehen sich noch als Opfer

Die Nato-Angriffe auf Serbien von 1999 halten viele Serben weiter für ein Verbrechen. Dennoch sehen prowestliche Politiker in Belgrad den Platz des Landes in Europa

BELGRAD taz ■ Zehn Jahre nach der „Aggression der Nato“ findet in Serbien keine Debatte darüber statt, ob die Luftangriffe berechtigt waren, sondern wie man mit der Ungerechtigkeit, viele sagen „den Verbrechen“, umgehen soll. Während prowestliche Kräfte in die Zukunft blicken und Serbien „trotz allem“ als Teil der Europäischen Union sehen, führen nationalistische Parteien und Bewegungen die Luftangriffe der Nato immer wieder als „Beweis der antiserbischen Politik des Westens“ ins Feld.

Am 24. März 1999 heulte in der Bundesrepublik Jugoslawien erstmals Fliegeralarm auf. Die darauf folgenden Luftangriffe der Nato auf Serbien und Montenegro dauerten 78 Tage. Abgefeuert wurden um die 22.000 Tonnen Sprengstoff. Bei der Aktion „Mercyful Angel“ wurden rund 1.000 serbische Soldaten, 2.000 Zivilisten, darunter 79 Kinder, getötet. Mehre tausend Menschen wurden verletzt.

Als „Kollateralschaden“ bezeichnete das Kommando der Nato unter anderem die Vernichtung eines Autobusses und eines Eisenbahnzugs, die Zerstörung der neurologischen Klinik und der chinesischen Botschaft in Belgrad, den Tod von 162 Menschen, als versehentlich zwei albanische Flüchtlingskolonnen im Kosovo bombardiert wurden. Auch die zwanzig auf einem Markt in der südserbischen Stadt Niš ermordeten Menschen wurden als Kollateralschaden bezeichnet – sie wurden Opfer von Streubomben.

Der Angriff auf das serbische Staatsfernsehen erfolgte hingegen planmäßig: 16 Menschen wurden getötet, obwohl die serbischen Behörden von dem Beschuss vorher wussten und das Nato-Kommando informiert war, dass sich dort Journalisten und Techniker befanden.

Die serbische Infrastruktur wurde systematisch zerstört: Straßen, Brücken, Eisenbahnschienen, Erdölraffinerien, Elektrowirtschaft, Fabriken. Belgrad schätzt den Schaden auf rund 30 Milliarden Dollar. Fast unversehrt kamen dabei serbische Streitkräfte und Polizei davon.

Von wegen Schutz von Menschenrechten im Kosovo, erklärte unlängst Serbiens Expremier, Vojislav Koštunica. Spätestens nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sei klar geworden, dass das Ziel der Luftangriffe die Errichtung eines Nato-Staates auf serbischem Territorium gewesen sei. Als einziges Land, das die EU-Mitgliedschaft anstrebt, hat Serbien auf einen Beitritt zur Nato verzichtet.

Einmal abgesehen vom nationalistischen Geschwafel, von Verschwörungstheorien und Xenophobie: Aus serbischer Sicht hat die Nato ohne Kriegserklärung und ohne die Genehmigung des UN-Sicherheitsrats einen souveränen Staat angegriffen. Anders gesagt: Wenn die serbische Polizei ganze albanische Dörfer im Kosovo zerstörte, weil sich dort albanische bewaffnete Rebellen versteckten, sei das nicht abscheulicher, als wenn die Nato ein ganzes Land vernichtete, tausende Zivilisten tötete, um Slobodan Milošević zu zwingen, seine Streitkräfte aus dem Kosovo zurückzuziehen und die Stationierung der Nato zu akzeptieren.

In Serbien erinnern sich heute noch viele Menschen an das Zischen der Marschflugkörper, das dumpfe Donnern von Bomben, das Heulen von Sirenen und den feuchten Geruch in den Luftschutzbunkern. Serbische prowestlich orientierte Politiker vertreten die Ansicht, dass sich Serbien den Wertvorstellungen von Brüssel anpassen müsse. Dieses bedeutet für sie aber nicht, anzuerkennen, dass sie zu Recht bombardiert worden sind. Zumal dann nicht, wenn sie an den „Ruinen“ in Belgrad vorbeigehen oder die Aufschrift auf einem Denkmal im Park Tašmajdan lesen, das den „durch die Nato-Angriffe getöteten Kindern“ gewidmet ist: „Wir waren nur Kinder.“ ANDREJ IVANJI