Das Leben als Komma

Bilanzroman, größenwahnsinniger Metaroman, vor allem aber großes psychohistorisches Tableau über das postsowjetische Moskau: Wladimir Makanins „Underground oder Ein Held unserer Zeit“

von SEBASTIAN HANDKE

Den Mut muss einer erst mal aufbringen. Ein 700-seitiges Buch mit einem barfüßigen Helden beginnen zu lassen, der sich zur gemütlichen Heidegger-Lektüre im Sessel niederlässt. Wenn es aber noch einen Ort gibt, an dem ein Roman so anheben darf, dann ist es wohl das postsowjetische Moskau, wo ein bisschen gelebter Existenzialismus durchaus hilft. Zumal der Held dieser Geschichte – einer unserer Zeit, laut Titel – seit langem schon in den Sesseln anderer Leute sitzt. Petrowitsch ist Wächter. Er „hütet ein“, und zwar die Behausungen der Bewohner eines achtstöckigen Wohnkomplexes am Rande Moskaus. Außerdem ist Petrowitsch Schriftsteller. Vielmehr war er mal einer, jetzt ist er Verrückter, Obdachloser, Drückeberger – „ein alter Graphomane eben“, und natürlich „Ingenieur“, also ein Lebensuntüchtiger. Aber Petrowitsch hat auch Stolz, denn nicht ein einziger seiner Texte ist jemals gedruckt worden. Weder unter Breschnew noch während der Perestroika. Ein echter Undergroundler eben.

Sein Erfinder dagegen, der russische Schriftsteller Wladimir Makanin, hat sich seiner Anerkennung nicht verweigert. Ende der Sechzigerjahre begann der ausgebildete Mathematiker zu schreiben: Antiutopien und quasisurreale Texte, aber auch einfache Erzählungen über den Homo sovieticus – eine Großstadtprosa, die man zur „Moskauer Schule“ zählte. 1998 erhielt er gar den Puschkinpreis fürs Gesamtwerk. Dabei war sein Opus magnum „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ gerade erst erschienen.

Es dürften wohl über hundert Figuren sein, die diesen Bilanzroman bevölkern: Sonderlinge und Angepasste, Loser und Wendegewinnler aus allen sozialen Schichten. Sie treten auf in etlichen, längeren oder kürzeren Episoden – ein Kriminalstück („Die kaukasische Spur“); eine Groteske über den kleinen Mann Tetelin, der für eine Tweedhose stirbt; das Hundescherzo, in Anlehnung an Bulgakows „Hundeherz“; ein Gefängnisaufenthalt, der Petrowitsch das Geheimnis von Malewitschs schwarzem Quadrat näher bringt.

Zusammengehalten wird das Kaleidoskop durch den gleichermaßen plaudernden wie reflektierenden Erzählton von Petrowitsch, dem keine menschliche Regung und kein sarkastischer Kommentar fremd ist und der sich selbst ebenso im Auge hat wie die Figuren, die auf- und abtreten. So ergibt sich aus diesem schmutzigen, übel riechenden Flickenteppich ein ausladendes psychohistorisches Tableau über das postsowjetische Moskau. Die Beziehung zu einer ehemaligen Systemmitläuferin aus dem akademischen Milieu, die an Petrowitsch ihr Gewissen reinigen will, fehlt hier ebenso wenig wie ein Trinkgelage mit dem neureichen Immobilienmakler.

„Underground“ ist aber tatsächlich auch ein Roman über den russischen Undergroundliteraten, der nach der Perestroika in ein tiefes Loch fällt. „Mein Ich forderte Freiheit von Erzählungen und Erzählstoffen, wollte es etwa selbst Stoff und Erzählung sein?“ Petrowitsch erlebt sein Leben als „Plot“, unvorhersehbare Handlungen als „Anmerkungen“ oder „Kommas“, und stellt sozusagen im Selbstversuch die großen Alten der russischen Literatur durch ihre praktische Umsetzung auf die Probe. Schuld und Sühne inbegriffen. „Underground“ ist damit auch ein größenwahnsinniger Metaroman über russische Literaturgeschichte: Schwierig wäre es, Textpassagen zu finden, die nicht in irgendeiner Weise auf literarische Vorgänger verweisen.

Letztlich ist „Underground“ auch die Geschichte eines Kampfes: des Kampfs um ein bisschen Würde im postsowjetischen Alltag, der im Trikot des „UGlers“ besonders schwer fällt. Denn die Achtung, die ihm von dem Menschen unter Breschnew noch entgegengebracht wurde, hat sich in Misstrauen gegen den Nichtsnutz verwandelt. Das innere Exil muss nach der Wende aber nicht aufgegeben, sondern eher noch bekräftigt werden. „Denn auch im betrunkenen Zustand gilt: Wenn ein UGler fällt, ist es das Ende.“ Viel Fallhöhe hat Petrowitsch nicht, aber das, was da ist, wird konsequent ausgemessen. Aus dem Fegefeuer des Wohnheims verschlägt es ihn in die Vorhölle des Obdachlosenasyls. Diese Vertreibung, der Automatismus des selbst gewählten Abstiegs, ist meisterhaft beschrieben. Vollends atemberaubend wird es, wenn Petrowitsch in ebenjener Irrenanstalt aufwacht, in der seinem aufsässigen Bruder Wenja vor 30 Jahren mit Psychopharmaka die Genialität ausgetrieben wurde.

Schließlich aber führt Petrowitschs „Philosophie des Schlags“ zum Erfolg: Am Schluss ist er wieder als Hüter in seinem alten Wohnblock willkommen, und die Geschichte nimmt fast so etwas wie ein gutes Ende. „Kein Anker, aber immerhin ein Widerhaken.“

Wladimir Makanin: „Underground oder Ein Held unserer Zeit“. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke, Luchterhand, München 2003, 700 S., 25 €