Wie wurde ich Parteigenosse?

Ein neuer Band in der „Schwarzen Reihe“ antwortet mit Aufsätzen einschlägig Forschender auf die viel diskutierte Frage, wie man Mitglied in der NSDAP wurde

VON CHRISTIAN SEMLER

Wer von uns hat sich nicht schon einmal an der Lust delektiert, einen allgemein verehrten moralischen Mentor stürzen zu sehen? Und sich anschließend dafür geschämt? Genau diese Lust zu schüren, ist in den letzten Jahren eine Schar von Enthüllern angetreten. Sie machten publik, dass bedeutende Wissenschaftler, Autoren und Denker, die den demokratischen und antifaschistischen Diskurs in der Bundesrepublik Jahrzehnte mitbestimmt hatten, als Jugendliche der Nazipartei NSDAP beigetreten waren – und diesen Beitritt immer verschwiegen haben.

Ob nun verschwiegen oder verdrängt – die Beitrittserklärung eines Minderjährigen im Jahre 1944, die praktisch folgenlos blieb, wäre nie und nimmer geeignet, die Lebensleistung eines Menschen zu diskreditieren oder ihm seine Befähigung zum Urteil in moralischen Fragen abzusprechen.

Statt aber den Spätaufklärern auf diesem Terrain der Abwägung (Mein Gott, ich war damals 18) zu begegnen, nahmen die der Mitgliedschaft „Überführten“ häufig zu Erklärungen Zuflucht, die die Mitgliedschaft in der Nazipartei rundweg bestritten. Bei der Beurteilung ihrer Argumentation geht es im Kern um die Frage, ob man als Angehöriger der Hitler-Jugend (HJ) ohne sein Wissen quasi in einem Gruppenverfahren zum Mitglied der NSDAP gemacht werden konnte.

Dieses Schauspiel der Enthüllungen und Rechtfertigungen kann nur beendet werden, wenn die historischen Fakten über die Rekrutierungspolitik der NSDAP sämtlich auf den Tisch gelegt werden. Genau dieser Aufgabe widmet sich die Handreichung „Wie wurde man Parteigenosse?“, die jetzt bei Fischer im Rahmen der verdienstvollen, von Walter Pehle herausgegebenen „Schwarzen Reihe“ erschienen ist. Bei dem Werk handelt es sich um einen Sammelband, die meisten der Autoren entstammen dem Umkreis des Berliner Instituts für Antisemitismusforschung. Dessen Leiter Wolfgang Benz hat auch eine instruktive Einleitung zur Geschichte der NSDAP und ihrer Mitglieder beigesteuert.

Der eigentlichen Fragestellung des Bandes widmen sich die Aufsätze von Juliane Wetzel und Armin Nolzen. Die beiden Autoren schildern detailliert, wie die NSDAP mit dem Fortgang des Krieges, Hitlers Anweisung folgend, sich fast ausschließlich auf die HJ als Rekrutierungsquelle konzentrierte. Beide Autoren kommen zu dem Schluss, dass bis zum Ende des Nazi-Reiches die Einzelunterschrift unter den Aufnahmeantrag zwingend vorgeschrieben war. Wegen fehlender Unterschrift wurden Anträge zurückgeschickt. Allerdings räumt Wetzel ein, dass es seitens der HJ-Führer starken Druck auf die HJler gegeben hat, den Antrag zu stellen. War doch die Quote von 30 Prozent des jeweiligen Hitlerjungen-Jahrgangs in den letzten Kriegsjahren zu erfüllen.

Armin Nolzen unternimmt eine präzise, aktengestützte Rekonstruktion der verschiedenen Etappen, die die Rekrutierungspolitik der NSDAP gegenüber der HJ durchlief. Bis zum Kriegsende hielt nach Nolzen die Parteiführung daran fest, dass die NSDAP auch künftig die Nazi-Avantgarde versammeln sollte. Deshalb bestand die Parteikanzlei darauf, „dass der Aufnahmeantrag von den aufzunehmenden Jungen und Mädel sorgfältig auszufüllen, eigenhändig zu unterschreiben und dem HJ-Führer zu übergeben ist“. Gegen Kriegsende ließ die Bereitschaft der HJler merklich nach, der Partei beizutreten. Konnten in dieser Lage Unterschriften von den örtlichen HJ-Führern gefälscht worden sein? Nach Nolzen unwahrscheinlich.

Die weiteren Beiträge des Bandes widmen sich der Organisationsgeschichte der NSDAP und ihrer Funktionseliten. Sie untersuchen ihr Selbstverständnis als Führerpartei, den Versuch, mittels Mitgliedersperren die „Reinheit“ der Parteireihen zu erhalten. Thematisiert wird auch die Sozialstruktur der Nazipartei, wobei Ingo Haar den Mythos von der NSDAP als einer Truppe ungebildeter Deklassierter dementiert. Peter Widmanns Aufsatz über Willkür und Gehorsam beharrt auf dem Befund, dass die Partei ein Kontroll-, Unterdrückungs- und Bereicherungsinstrument war, dessen Geltung auf Angst beruhte.

Gegenüber Sven Felix Kellerhoffs Schlussbetrachtung „Die Erfindung des Karteimitglieds“ ist Kritik angebracht. Sie betrifft seine These, es habe gar keine publizistische Kampagne gegen die Intellektuellen als jugendliche Parteimitglieder gegeben, erst recht keinen groß angelegten Versuch zu deren Delegitimierung als moralische Person. Alles nur Ablenkungsmanöver der Linken, die plötzlich den Schlussstrich entdeckt haben?

Fotohinweis:Wolfgang Benz (Hg.): „Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder“. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009, 224 Seiten, 12,95 Euro