Da staunt sogar der Hausmeister

Eine „multikulturelle Gesamtschule“ – das klingt nach sozialem Brennpunkt. Ist es aber nicht. Die State International School Berlin in Charlottenburg zeigt, wie Schule sein kann. Das begeistert sogar den Bestsellerautor Paulo Coelho

VON FELIX WADEWITZ

Patrick hat ein leeres Blatt Papier auf dem Tisch und eine Geschichte vor Augen: Sie handelt von zwei Schülern, die in eine Klasse gehen. Dem einen fällt die Schule immer ganz leicht. Für den anderen ist der Unterricht eine Qual. Er hat nur einen Traum: Basketball spielen. Doch das darf er nur, wenn seine Noten besser werden.

Patrick ist Schüler der neunten Klasse der Staatlichen Internationalen Schule Berlin (SISB). Der 16-Jährige hat gerade Deutschunterricht. Kreatives Schreiben steht auf dem Stundenplan. Für Patrick ist es ganz klar, wie seine Geschichte weitergeht: Die Mitschüler helfen sich gegenseitig. Der Basketballer wird besser in der Schule und der Streber lernt, was es heißt, cool zu sein – der Beginn einer Freundschaft.

„Wenn ich etwas tue – wie berührt das meine Mitschüler?“, ist die Frage, die sich ein Schüler der SISB stets stellen soll. Das wollen die Lehrer vermitteln. „Mit Freude und Idealismus erreichen wir dieses Ziel“, sagt der Direktor.

600 Schüler gehen mittlerweile in die Vorklasse, die Sekundarstufe und die gymnasiale Oberstufe der SISB – vor vier Jahren waren es noch 30. Hunderte Bewerbungen stehen jedes Jahr wenigen freien Plätzen gegenüber. Zwei Standorte hat die Schule in Charlottenburg-Wilmersdorf, einen in der Pfalzburger Straße und einen in der Kastanienallee – Letzterer wurde erst vor wenigen Wochen bezogen. Neben den deutschen Abschlüssen bis zum Abitur offeriert die im Jahr 2000 vom Senat gegründete Gesamtschule in Zukunft auch das Internationale Baccalaureate und das American High School Diploma. Das ist nicht billig. Schulgeld müssen die Eltern dennoch nicht zahlen – und das soll auch so bleiben, damit Schüler aus allen Gesellschaftsschichten hier lernen können.

So international wie die Ausrichtung ist auch die Schülerschaft. Patricks Mutter kommt aus dem Sudan, Sitznachbar Nana hat seine Wurzeln in Ghana. Sechs weitere Nationen sind in der Klasse vertreten. Im Sportunterricht könnte problemlos die Olympiade simuliert werden. Die Eltern der Kinder sind Sozialhilfeempfänger, Manager oder arbeiten für das Auswärtige Amt. Voraussetzung für die Aufnahme ist ein bestandener Sprachtest.

Die Klassen bestehen je zur Hälfte aus englischen und deutschen Muttersprachlern. Patrick und Nana reden englisch miteinander. Und deutsch. Je nach Laune wechselt die Sprache manchmal von Satz zu Satz. Patrick, Nana und die anderen haben nicht nur einen, sondern zwei Klassenlehrer.

Cordelia Premkumar kommt aus Indien und hat zwei Doktortitel – in Chemie und in Biologie. Ihre Kollegin Ilse Brezger ist Deutsche und arbeitete 20 Jahre an einer Neuköllner Schule, bevor sie an die SISB wechselte. Die beiden unterrichten als Team. Zweisprachig natürlich. Klassischen Frontalunterricht finden sie überholt. „Wir stehen nicht vor der Klasse“, erzählt Brezger. „Wir verstehen uns als Teil der Gruppe, sitzen und arbeiten mit ihnen zusammen.“ Beide profitieren voneinander. Premkumar hatte keine Ahnung vom deutschen Schulsystem und Brezger wusste nicht, wie toll es ist, zu zweit zu unterrichten.

Brezger hat den Deutschunterricht heute kurzerhand in den Kunstraum verlegt. Patrick, Nana und ihre Mitschüler können so ihre Geschichten zunächst malen, bevor sie sie in Worte fassen. Die Kunstlehrerin hat mit der spontanen Aktion kein Problem – an starren Plänen will hier niemand festhalten. Flexibilität ist Trumpf.

Aus den Vereinigten Staaten, Indien, Ägypten, England den Niederlanden und natürlich Berlin stammen die Pädagogen der Schule. Jedes Jahr kommen 20 neue hinzu – und jeder bringt seine besten Erfahrungen mit in den Alltag der SISB. Das Lehrprogramm stellt an das Kollegium hohe Anforderungen – und das nicht nur bei der Wissensvermittlung. Sie sollen Toleranz, Offenheit und globale Verantwortung vorleben. So steht es im Schulprospekt.

„Absolute Klasse“ findet ein anderer Patrick, der Schülersprecher, den Unterricht. Der Unterschied zu den Schulen, auf die seine Freunde gehen: „Die Lehrer hängen nicht an irgendwelchen Lehrplänen oder spulen nur ihr Standardprogramm runter.“ Und bei wichtigen Entscheidungen geht nichts ohne die Schüler – „wir sind fast wie eine große Familie“. Wenn Holzhäuser keinen Unterricht mehr hat, geht er nicht nach Hause und setzt sich vor den Fernseher. Die SISB ist eine Ganztagsschule. Bis 16 Uhr bleiben Lehrer und Schüler zusammen. Nicht selten herrscht auch nach 18 Uhr noch „ein Betrieb wie im Kaufhaus“, findet der Hausmeister und wundert sich: „Wat machen die bloß den janzen Tach hier?“

„Wir nehmen uns viel, viel Zeit“, sagt Lehrerin Brezger. „Nur so können wir jeden Schüler vor dem Hintergrund seiner Kultur wahrnehmen.“ Und: „Theoretisch ginge das ja an jeder Schule. Aber bei uns gehört es zum Programm.“ – „Die Lehrer sind nicht einfach nur Lehrer“, sagt Patrick, der Schülersprecher. „Wir haben eine engere Beziehung zu den Lehrern als an anderen Schulen“, glaubt der 14-Jährige. „Die nehmen sich wirklich Zeit für uns.“

Es ist halt alles ein wenig anders an dieser Schule. „Ich habe es jetzt wohl mit einem anderen Menschenschlag zu tun“, bemerkte der Hausmeister zu einem Lehrer, nachdem die SISB vor wenigen Wochen ihre neuen Räume in Besitz nahm. Was denn geschehen sei, wollte der Lehrer wissen. Fassungslos berichtete der Mann: „Ein Schüler hat mir gerade die Tür aufgehalten.“