Im Gestrüpp des Ost-West-Dialogs

Unterschiedliche Kommunikationsstrukturen in Ost- und Westdeutschland führen häufig zu Missverständnissen. Wer die Spielregeln seines Gesprächspartners nicht kennt, tappt fast unvermeidlich in die zahlreichen Kommunikationsfallen

Hier wie da verlaufen die kulturbedingten Irritationen unbewusstWer mehr fragt, zeigt implizit, dass er einen untergeordneten Status hat

VON DAGMAR SCHEDIWY

In einem Ost-West-Team wird bei einer Arbeitssitzung über ein neues Projekt beraten. Schließlich fragt der Teamleiter, ob noch jemand Einwände habe. Als niemand einen Einwand äußert, wird ein positiver Beschluss gefasst. Allerdings stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass die Ost-Mitarbeiter das neue Vorhaben nicht umsetzen. Auf Nachfrage erklären diese, sie hätten dem Projekt nie zugestimmt. Was ist hier schief gelaufen?

Offensichtlich hatte niemand die unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen von Mitarbeitern aus Ost- und Westdeutschland bedacht. Während im Westen der Disput über unterschiedliche Auffassungen Usus ist, ist man im Osten viel mehr auf Konsens und Übereinstimmung bedacht. Ein direktes Nein versucht man, wo immer es geht, zu vermeiden. Hätten die Ost-Mitarbeiter in dem obigen Beispiel dem Projekt zugestimmt, hätten sie eindeutig Ja gesagt.

Mit solchen und ähnlichen Fallstricken der Ost-West-Kommunikation hat sich der Kommunikationswissenschaftler Olaf Georg Klein in seinem Buch „Ihr könnt uns einfach nicht verstehen“ befasst. Seine These ist, dass es in West- und Ostdeutschland zwei unterschiedliche Kommunikationskulturen gibt. Wer deren Spielregeln nicht kennt, tappt im Ost-West-Dialog im Dunkeln. Er tritt von einem Fettnäpfchen ins andere und bedient schließlich die bekannten Klischees vom Jammer-Ossi und Besserwessi.

Wie irrig die Annahme sein kann, dass man sich problemlos verständigt, wenn man eine nahezu identische Sprache spricht, hatte Klein während eines Forschungsaufenthalts in den USA erfahren. Dort hatte er die Unterschiede in der Kommunikationskulturen von Engländern und Amerikanern kennen gelernt und Parallelen zur deutschen Situation entdeckt. Hier wie da verlaufen die kulturbedingten Irritationen unbewusst. Was ins Bewusstsein dringt, ist lediglich, dass sich der jeweils andere irgendwie falsch benimmt.

Viele Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen drücken sich auf nonverbale Weise aus. Berühmtestes Beispiel: Das Handgeben zur Begrüßung und zum Abschied – im Westen eher locker gehandhabt – ist in der östlichen Kommunikationskultur ein absolutes Muss.

Andere Kommunikationsfallen sind weniger geläufig: So ist das Empfinden für den richtigen Abstand zwischen zwei Menschen in Ost und West durchaus nicht gleich: Ist der Westler eher auf Distanz bedacht, sucht der Mensch aus dem Osten die menschliche Nähe: Zwischen zehn und dreißig Zentimetern beträgt nach Kleins Beobachtungen die Differenz für das, was in Ost und West als normaler Abstand gilt.

Doch auch die verbale Kommunikation zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West hat ihre Tücken. Nicht nur was gesagt wird, auch wie etwas gesagt und wie das Gesagte gedeutet wird, ist wichtig. Irritierend ist oft schon die Gesprächseröffnung: Der westdeutsch sozialisierte Gesprächspartner beginnt in der Regel über ein Thema zu reden und erwartet, dass der ostdeutsche Gesprächspartner mit einem Statement ins Gespräch einsteigt. Nicht selten läuft aber die Kommunikation ins Leere.

Für den ostdeutsch sozialisierten Gesprächspartner ist es nämlich üblich, dass man das Gespräch mit einer Frage beginnt. Während Fragen in der ostdeutschen Kommunikationskultur als eine Form der Annäherung empfunden wird, ist es im Westen mit Unsicherheit und Passivität verknüpft. Wer mehr fragt, zeigt implizit, dass er einen untergeordneten Status hat.

Wenn man die Häufigkeit der Fragen in den beiden Kommunikationskulturen vergleicht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Westmänner stellen in Gesprächen die wenigsten, Ostfrauen die meisten Fragen. Hingegen liegen Ostmänner und Westfrauen in der Fragefrequenz gleichauf. An diesem Beispiel zeigt sich, dass neben der jeweiligen Kommunikationskultur auch die geschlechtsspezifische Prägung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Viele Rituale ostdeutscher Gesprächskultur, die den Westlern fremd sind, haben einen eindeutig identifizierbaren sozialpsychologischen Grund. So hat der Sozialwissenschaftler Wolf Wagner festgestellt, dass das berühmte Jammern und Klagen, ein integraler Bestandteil ostdeutscher Alltagskultur, die Funktion hat, in einer Situation wachsender sozialer Unterschiede das Gefühl von Gleichheit und Solidarität zu wahren.

Auch die Beobachtung, dass Westdeutsche bei Geschäftstreffen häufig über Statussymbole, Ostdeutsche dagegen am liebsten von Kindern und Familie erzählen, lässt sich sozialpsychologisch aufschlüsseln. In einer deutschlandweiten vergleichenden Untersuchung haben Elmar Brähler und Horst-Eberhard Richter Ost- und Westdeutsche nach ihrer Zufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen befragt. Während Ostdeutsche vor allem mit ihrer materiellen Lage unzufrieden waren, ist ihre Zufriedenheit mit dem Familienleben besonders groß.

Entgegen der verbreiteten Annahme, die DDR-Krippenerziehung und die Berufstätigkeit der Mütter habe Massen von Gefühlskrüppeln erzeugt, ist die Bindung an die Eltern und den Partner bei den Menschen in Ostdeutschland sehr stark.

Durchweg wurden die Eltern im Osten als toleranter, warmherziger und unterstützender wahrgenommen, während sie im Westen als ablehnender und zugleich fordernder und überbehütender erlebt wurden.

Sind nun die Deutschen in Ost und West durch ihre kulturspezifische Prägung für immer getrennt? In Gebieten mit Mischkulturen wie zum Beispiel Berlin wächst schon längst die Anzahl der Menschen, die komfortabel zwischen beiden Kommunikationskulturen hin- und herwechseln. Außerdem: Bei allen Unterschieden hat die vergleichende Ost-West-Forschung auch interkulturelle Gemeinsamkeiten ans Licht gebracht: Deutsche in Ost und West lieben Fußball, Bier, Sauerkraut, Blasmusik und Gartenzwerge. Wer hätte das gedacht.