Auf Wiedersehen, Kinder

„Wer vor 30 Jahren vorschlug, wie mehr Kinder geboren werden könnten, war gleich der Nazi“„Jetzt ist der Altersaufbau der Bevölkerung nicht mehr reparabel. Da ist nichts mehr zu machen.“

von ULRIKE WINKELMANN

Alte Männer finden oft einfache Sätze für schwierige Sachverhalte. „Die deutschen Demografen wollen, dass die Fruchtbarkeit wächst“, sagt Parviz Khalatbari: Die Bevölkerungswissenschaft will mehr Kinder. Denn die Bevölkerung altert, und die Wissenschaftler fürchten, dass die Gesellschaft ihr Altern so schwer erträgt wie jeder Einzelne.

Khalatbari muss es wissen. Er ist Deutschlands dienstältester Bevölkerungswissenschaftler: Seit 1969 war der gebürtige Iraner in der DDR Deutschlands erster Professor für Demografie. Heute ist der 78-Jährige längst pensioniert, nimmt aber noch rege Teil an der Arbeit des überschaubar kleinen Kreises der deutschen Demografen.

Fragt man hier nach, so stellt sich heraus, dass sich die Demografen vom Kinderwunsch verabschiedet haben – in die Verbitterung. Und die bedeutet: dann eben Abbau der sozialen Sicherungssysteme. „Alles war schon vor 30 Jahren bekannt, aber man hat sich immer nur Vorwürfe gemacht, und nichts ist passiert“, sagt etwa Karl Schwarz, ehemaliger Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB).

Jetzt führe kein Weg mehr an den Reformen von Rente, Pflege und Gesundheitssystem vorbei, wie sie von der Rürup-Kommission mit demografischer Analyse erarbeitet wurden. „Rürup ist angemessen, alles andere ist dummes Zeug“, sagt Schwarz (86). Ein anderer Ex-Chef des BiB, Hans W. Jürgens (71), erklärt: „Wer vor dreißig Jahren Vorschläge machte, wie mehr Kinder geboren werden könnten, war gleich der Nazi“ – von wegen Lebensborn und Mutterkreuz und so. „Jetzt ist der Altersaufbau der Bevölkerung nicht mehr reparabel. Da ist nichts mehr zu machen.“

Nun sind Demografen aber auch Schwarzseher von Beruf. Ihre Rolle ist, die kurzfristig denkenden und kurzschlüssig handelnden Politiker zu mahnen: Schaut, was da kommt! Stellt euch darauf ein! Doch um Schwarz und Jürgens besser zu verstehen, muss man vierzig Jahre zurückschauen.

Gegen 1966 passierte etwas historisch nie Dagewesenes. Nachdem die Geburtenrate seit Kriegsende bis Mitte der 60er-Jahre angestiegen war, sackte sie plötzlich steil ab: Bis 1972 auf fast die Hälfte. Die Aufregung in Politik und Öffentlichkeit war groß, und bis heute gibt es keine eindeutige Antwort darauf, woran es lag, dass keine Kinder mehr geboren wurden. Emanzipation und Bildung der Frau, Verhütungsmittel, verbreiteter Ehefrust: Es kam wohl alles zusammen. Damals entstanden die Behauptungen, die heute wieder aktuell sind: Die Frauen seien „egoistisch“, die sozialen Umbrüche der 60er-Jahre hätten das gesellschaftliche Klima ruiniert etc. pp.

Und die Demografen wie die Politiker mussten lernen, dass Frauen nicht allein deshalb mehr Kinder bekommen, weil man es von ihnen verlangt. Der heutige Vizedirektor des BiB, Reiner Schulz, sagt: „Familienpolitik wird nie in der Lage sein, Kinderwünsche hervorzurufen. Man kann Wünsche nicht herbeiführen, man kann es Paaren nur erleichtern, Kinderwünsche zu realisieren.“

Mit den jetzt anstehenden Reformen von Rente, Pflege und Gesundheitssystem erlebt das Thema Demografie einen Aufschwung. Zwar geht es den Politikern gegenwärtig vor allem darum, die Arbeitgeber zufrieden zu stimmen. Auch sind es die CDU und die Liberalisierer, die die Botschaft der Demografie am lautesten ausschlachten – meinten sie doch immer schon, der Sozialstaat sei sowieso nicht bezahlbar.

Aber auch die Fans des Sozialstaats kommen nicht daran vorbei: Der Altersaufbau der Bevölkerung verlangt eine Anpassung der Sozialsysteme. So schreibt es auch die Rürup-Kommission: „Immer weniger Jüngere müssen die Leistungen für immer mehr Ältere aufbringen.“ Das Problem wächst sich bis 2030 aus, denn dann verlangen die geburtenstarken Jahrgänge Rente und Pflege. Abklingen wird es erst, wenn die „Baby-Boomer“ ab 2040 aussterben.

Solche Zahlen sind doppelt hart: Sie gelten als sauber ausgerechnet, und sie sind unbarmherzig. Seit Mitte der 70er-Jahre hat sich die Geburtenrate kaum mehr verändert. Die Wiedervereinigung hat die Statistik zwar durcheinandergeschüttelt. Aber gegenwärtig gehen die Demografen davon aus, dass die Frauen in Deutschland im Schnitt weiterhin 1,4 Kinder bekommen. Geringe Schwankungen gibt es zwar – etwa neigen die 1970er-Jahrgänge wieder dazu, früher Kinder zu bekommen. Dies aber, sagt Jürgen Dorbritz vom BiB, „ist noch längst kein Babyboom“.

Nein, man kann die Zahlen drehen und wenden, am Ende steht immer: Es werden weniger Kinder geboren, als es brauchte, um den Anteil der Aktiven gegenüber den Nichtaktiven und damit Rente, Pflege und Gesundheitsversorgung in heutiger Version zu erhalten. Das gilt auch, wenn die Alten gesünder bleiben als erwartet oder wenn weit mehr Einwanderung möglich wird.

In den kommenden 30 Jahren wird die deutsche Bevölkerung – und mit ihr die meisten Europäer – rapide altern. „Die Demografen sollen darüber nicht jammern“, sagt Parviz Khalatbari. Sie sollten vielmehr Erklärungen finden, wann Kinder geboren werden und wann nicht. „Statistiken halten nur eine Generation“, sagt er, „aber Theorien, die würden länger halten.“ Ob sie auch mehr erklären würden?