Nüchternes Erwachen in der Luxusgosse

Aufgedunsene Exjunkies auf der Bühne und naturblonde Punks ohne Pickel davor: Beim Öya-Open-Air-Festival in Oslo am letzten Wochenende führte die norwegische Fast-Prohibition zu erstaunlichen Ergebnissen – mit einigermaßen klarem Kopf spielt es sich anscheinend besser

Selbst Mike Skinner stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Seit Wochen mit „Dry Your Eyes“ Nummer eins der englischen Single-Charts und spätestens jetzt jeder Geldsorge unverdächtig, konnte es sich der Mann hinter The Streets trotz allem nicht verkneifen, die astronomischen Bierpreise in Norwegen anzuprangern. „Gestern Abend habe ich 5 Pfund für ein Lager bezahlt“, erklärte er seinem Osloer Publikum, eine vorsorglich mitgebrachte Flasche Duty-Free-Brandy in der Hinterhand. „Ihr alle müsst wirklich sehr reich sein. Also tut mir einen Gefallen, wenn ihr mich heute Nacht in der Gosse findet: Bitte, bitte kauft mir ein Bier.“

Ein verständlicher Wunsch, mit dem Mike Skinner nicht nur den ausländischen Besuchern des Öya-Open-Airs aus der Seele sprach. Wobei er, im Gegensatz zu seinen letzten Deutschlandkonzerten, einen derart fitten und nüchternen Eindruck machte, dass man der restriktiven norwegischen Gesundheitspolitik sogleich Respekt zollen musste – zumindest an diesem Abend dürfte das filmreife Erwachen in der Gosse nicht mehr als Skinners frommer Working-class-wunsch geblieben sein.

Für den Weg nach ganz unten und die Ochsentour zurück ans Licht waren eher die anderen Headliner des Festivals zuständig. Velvet Revolver etwa, seit gestern Abend auch auf Deutschlandtournee. Die neue Rock-Supergroup bestehend aus den ehemaligen Guns-N’-Roses-Mitgliedern Slash, Duff McKagan und Matt Sorum sowie dem Stone-Temple-Pilots-Sänger Scott Weiland, konnte erwartungsgemäß eher durch ihr kompaktes Aufgebot an ausgemergelten wie aufgedunsenen Exjunkies und Alkoholikern als durch ihre musikalische Vorstellung überzeugen.

„You wanted the best, but they couldn‘t make it, so here is Velvet Revolver“, kündigte der Stadionsprecher sarkastisch ihren Auftritt an, der souverän die Balance zwischen sehr stumpfem und zu stumpfen Hard-Rock-Klischees halten sollte. Das Osloer Publikum zeigte sich dann auch derart unenthusiastisch, dass sogleich Befürchtungen aufkamen, Velvet Revolver würden zur Strafe das heiß erwartete Guns-N’-Roses-Medley ausfallen lassen, und stattdessen Stone-Temple-Pilots-Klassiker spielen. Nichts von beidem geschah, ihre neuen Songs mussten für sich sprechen. Da sie kaum der Rede wert waren, konnte man sich ganz auf den pittoresken Kontrast zwischen den Überlebenden aus L.A. und ihrem kerngesunden, naturblonden Publikum konzentrieren, das in den Konzertpausen lieber Plastikbecher und Kippen aufsammelte, als einen anständigen Joint zu bauen.

Vielleicht lag es an dieser aufgeräumt skandinavischen Szenerie, in der selbst die Punks keinerlei Pickel zu haben schienen, das ausgerechnet der ewig labile Evan Dando einen ausgeglichenen Eindruck machte. Sichtlich genoss er das bejubelte Comeback seiner Lemonheads, die er Anfang des Jahres für eine Südamerikatour zusammengerufen hatte und die hier in Oslo ihr erstes und einziges Europakonzert spielten. (Dass man trotzdem beim besten Willen niemanden aus der alten Lemonheads-Besetzungsliste auf der Bühne erkennen konnte, tat der grenzenlosen Begeisterung keinen Abbruch.)

Evan Dando, der für sein Publikum früher wenig mehr als Verachtung empfand, strahlte mit seinen Fans um die Wette und ließ sie sogar – ein persönlicher Rekord in Sachen Interaktivität – die Refrains der alten Hits allein singen.

Bei „Into Your Arms“ konnte man dann auf der großen Leinwand neben der Bühne tatsächlich sein sagenumwobenes Tatoo erkennen, das nicht ganz unschuldig an seiner Wiederauferstehung sein dürfte. „I was born to change the world“, stand da zu lesen, auf der Innenseite seines linken Unterarms. Wahrscheinlich als Mahnung daran, nie wieder eine Nadel in den selbigen zu rammen.

Eine Mahnung, die sein Osloer Publikum nicht weiter tangieren musste. Bei diesen Bierpreisen, so dachte man mit Blick in den Sonnenuntergang, wie viel würde hier wohl ein Gramm Heroin kosten? Höchstwahrscheinlich, selbst für Evan Dando: zu viel.

CORNELIUS TITTEL