Mein Leben mit Al Oerter

Schön, diese Olympischen Spiele. Man genießt und fiebert mit. Und zwar schon immer. Erinnerungen an Sportlehrer und gute Zeiten in Heilbronn und anderswo

VON RAINER MORITZ

Jedes Leben braucht Ordnungssysteme. Wo alles unübersichtlich und schnelllebig ist und wo alles – wie die Kulturkritiker sagen – noch schlimmer wird, bedarf es der Orientierungspunkte. Solche, die helfen, das chaotische Tages- und Lebenseinerlei zu strukturieren.

Menschen, die vorgeben, ungebunden, „heute hier, morgen dort“ (Hannes Wader) leben und sich keinen Deut um Regeln scheren zu wollen, waren mir stets verdächtig. Für mich wäre das nichts, und als Sportinteressierter ist es mir nie schwer gefallen, System in meine Biografie zu bringen. Das mögen manche für ein ärmliches Hilfsmittel halten, doch da es dem Leben ohnehin nie an unschönen Überraschungen mangelt, bin ich über jedes Gerüst froh, an dem ich mich festhalten kann.

Mein Dasein lässt sich seit langem sehr übersichtlich an Zweijahresstationen festmachen, denn die Weltordnung ist zum Glück auf geniale Weise so eingerichtet, dass Fußballweltmeisterschaften und Olympische Sommerspiele (die nur Unbedarfte „Olympiaden“ nennen) im Abstand von zwei Jahren stattfinden und nie zusammenfallen. 1954 Fußball in der Schweiz, 1956 Olympia in Melbourne, 1958 Fußball in Schweden, 1960 Olympia in Rom … so geht das bis heute fort, und ich bin sicher, dass die für die Welt Verantwortlichen an dieser idealen Abfolge nie etwas ändern werden – zumal sich dadurch früh einprägt, dass olympische Jahre immer Schaltjahre sind, eine Eselsbrücke, für die man gerade als junger Mensch dankbar ist.

Jetzt also wieder Olympische Spiele, und obwohl mich die letzten Monate mit Fußballeuropameisterschaft, Wimbledon, Tour de France und diesem ewigen Formel-1-Herumgefahre in Atem hielten, bin ich innerlich gerüstet, die olympische Rückkehr auf griechischen Boden gebührend zu würdigen. Freilich, so schön wie früher wird es nie mehr sein und so bewegend wie 1968 und 1972, als mich die Spiele in Mexico City und München stark beschäftigten, auch nicht.

Mein Interesse für olympische Höchstleistungen hatte übrigens mit aktiver Sportausübung wenig zu tun. Ich tat mich ein wenig als Handballtorwart hervor, kämpfte – trotz einer eklatanten Schwäche bei Schmetterbällen – für den TTC Heilbronn eine Zeit lang an der Tischtennisplatte und besann mich im Alter von siebzehn Jahren schließlich darauf, meiner Sportbegeisterung eine philosophische Grundierung zu geben und als Fußballschiedsrichter der – so Aristoteles – höchsten Tugend, der Gerechtigkeit, auf schwäbischen Dorfplätzen Geltung zu verschaffen.

Trotz dieser eindeutig ballorientierten Vorlieben galt meine Fernsehleidenschaft auch der Leichtathletik, dieser, wie es gern heißt, Königsdisziplin unter den olympischen Sportarten. Konstitutionell und meist auch konditionell war ich nie ein Freund des Springens und Laufens, und offen gestanden zählten die Stunden des Sportunterrichts, die im Freien stattfanden und dem Weitsprung oder der Mittelstrecke galten, zu den gefürchteten Augenblicken meines Schülerdaseins. Keiner meiner Sportlehrer verstand es, diesen Bann zu brechen und mich zu einem Freund des 1.000-Meter-Laufes zu machen.

Überhaupt diese Sportlehrer – eine Berufsgruppe, die darauf wartet, in einer detaillierten soziologischen Studie abgehandelt zu werden. Sportlehrer genossen … Auch wenn sie notgedrungen ein „zweites Fach“ unterrichten mussten, genossen sie unter Kollegen kein hohes Ansehen. Wie anstrengend ist es, weitschweifige Aufsätze zu korrigieren und komplexe Mathematikeinheiten vorzubereiten, und wie leicht hingegen, mit Halbwüchsigen ein bisschen Volleyball zu spielen und Bockspringen zu beaufsichtigen.

Meine Sportlehrer waren sehr unterschiedlich charakterlich veranlagt. Nicht alle waren mir sympathisch, wie Referendar Bregler beispielsweise, der als „harter Hund“ und DKP-Anhänger galt – was einem in einer mittelgroßen nordwürttembergischen Stadt Anfang der Siebzigerjahre nicht alle Tage begegnete. Bregler quälte uns Magath-artig, ließ uns unablässig Platzrunden drehen und scheute sich nicht, seine Abscheu vor kapitalistisch angekränkelten Memmen lautstark zum Ausdruck zu bringen. Angenehm war das nicht, und auch meine Sympathie für den Kommunismus wuchs dadurch nicht.

Aus Siebenbürgen oder so kam Aushilfslehrer Fleischer, der nichts anderes als Sport unterrichten durfte und eher eine Art Sonderfall darstellte. Immerhin war er bei den minderbemittelten Nachwuchsathleten beliebt, denn Fleischer ließ uns nach Belieben Hallenfußball spielen, während er sich in seine Lehrerkombüse zurückzog und den Tag mit ausführlicher Lektüre der Bild-Zeitung begann und wiederholter Lektüre der Heilbronner Stimme schloss.

Weitaus größeren Respekt genoss Studienrat Koeber, der auch als akribisch arbeitender Englischlehrer wirkte. Er zählte zu jenen Pädagogen, von denen eine Ernsthaftigkeit ausging, die Schülern – zumindest damals – ein permanent schlechtes Gewissen einflößte. Mit dezenter Leidensmiene kommentierte er unsere Fehlleistungen, erwartete wache Neugier für seine Erläuterungen und konnte mit alterstypischem Schlendrian nichts anfangen.

Aufsehen erregte Lehrer Koeber durch die Anschaffung eines gelben VW Porsche, der damals als Lightversion eines „richtigen“ Porsche offenkundig auch Jungpädagogen beeindruckte und den biederen Fuhrpark unseres Gymnasiums auffrischte. Später gelang es Koeber, das Herz einer schönen Referendarin, die Wetter oder so hieß, zu erobern, was wiederum uns Schülern den überraschenden Umstand vor Augen führte, dass auch Lehrer eine Art Liebes- und Privatleben unterhielten.

Mein liebster Sportlehrer kam aus Polen, hieß Edward Adamczyk und lieferte den Beweis dafür, dass Olympioniken Menschen aus Fleisch und Blut waren. Denn Adamczyk hatte selbst an Olympischen Spielen teilgenommen, 1948 in London, und in der schwersten aller Disziplinen, im Zehnkampf, einen respektablen neunten Platz belegt. Seine Stärke im Weitsprung – 7,08 Meter – ließ ihn auch an diesem Einzelwettkampf teilnehmen. Vier Jahre später, 1952 in Helsinki, versuchte sich Adamcyzk gar im Stabhochsprung, wo er allerdings an der Qualifikationshöhe von vier Metern scheiterte.

Adamczyks Ausweis als Olympiakämpfer machte ihn zu einem milden Sportpädagogen. Mit erbarmungsloser Geduld spornte er selbst die Fußlahmen und Bewegungslosen an und freute sich aufrichtig, wenn er sah, dass ich zumindest gewillt war, das verhasste Laufen mit Anstand hinter mich zu bringen. Auch dass ich es im Weitsprung kaum über die Viermetermarke schaffte und unelegant in die Grube plumpste, ließ ihn nicht an der Welt und an mir verzweifeln. Die alte olympische Regel vom „Dabeisein ist alles“ wurde hier, auf der Aschenbahn Oststraße/Ecke Karlstraße, mit Leben erfüllt.

Über Edward Adamcyks ruhmreiche Vergangenheit wurde an unserer Schule immer nur gemunkelt; Genaueres wusste niemand. Erst ein Weg in die Heilbronner Stadtbücherei klärte auf und brachte mich einem Buch nahe, das meine Anteilnahme an Dreisprung, Diskuswerfen und Hürdenlauf auf ein solides Fundament stellte. 1968 und 1969 erschienen im Berliner Verlag Bartels & Wernitz die beiden Bände „Geschichte der olympischen Leichtathletik“, verfasst von Ekkehard zur Megede. Auf gelb-schwarzem Schutzumschlag loderte das olympische Feuer, und zur Megedes mit Zahlen und Fakten gespickte Darstellung erzählte schön nach, welche Schicksale sich abspielten, seit 1896 der Schafhirte Spiridon Louis sich mit einem Viertelliter Wein gestärkt und den Marathonlauf bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit gewonnen hatte.

Die beiden Bände, die natürlich auch Edward Adamczyks Ergebnisse exakt würdigten, interpretierten Finalläufe und Endkämpfe als Trauerspiele shakespearescher Zuspitzung und Hammerwürfe und Wechselfehler als Erzählungen hemingwayscher Dichte. „Das Drama um Bengt Nilsson“, „Der Wind half Egil Danielsen“, „Weil es regnete, strahlte für Lia Manoliu die Sonne“ – mit solchen Überschriften wurde eine Spannung aufbereitet, die mir die Helden der Aschenbahn zu vertrauten Weggefährten machte.

Nie werde ich ihre Namen vergessen, den italienischen Sprinter Livio Berutti, den Weitspringer Igor Ter-Owanesian, den Barfußläufer Abebe Bikila, die Fünfkämpferin Ingrid Becker, das Speerwurf-As Janis Lusis, den belgischen Hindernisläufer Gaston Roelants oder die russischen Schwestern Tamara und Irina Press, die oft gewannen, indes – wie zur Megede festhielt – einen „fraglichen Geschlechtsstatus“ aufwiesen, den mein Vater kopfschüttelnd mit einem lapidaren „Mannweiber“ belegte. Die sich aus so vielen Zahlen zusammensetzende Leichtathletik war anderen Sportarten weit überlegen. Gelegentlich warf ich einen Blick aufs Springreiten, wo die italienischen Brüder d’Inzeo in Uniform Hindernisse nahmen, aufs Turmspringen, wo der Südtiroler Klaus Dibiasi gewann, oder aufs Hockey, wo seinerzeit Indien und Pakistan derart verbissen gegeneinander angingen, dass die Reporter immer wieder auf politische Hintergründe hinwiesen, auf Begleiterscheinungen, die ich freilich als störend empfand.

Denn Politik sollte den Sport nicht stören, und so verfolgte ich mit Argwohn, wie die amerikanischen Sprinter Carlos und Smith 1968 für „Black Power“ demonstrierten, und die Terroranschläge von München vier Jahre später nahm ich ganz egoistisch als Angriff auf meinen olympischen Sommerfrieden. „The games must go on“, rief IOC-Präsident Avery Brundage seinerzeit – gut gemeint, aber so rechte Freude wollte danach nicht mehr aufkommen.

Das kurze Erleben leichtathletischer Triumphe musste nach- und durchgespielt werden. Ebenso wie ich stundenlang mit Würfeln Bundesligatabellen neu gestaltete, ersann ich auch Möglichkeiten, Weitsprungausscheidungen oder 10.000-Meter-Läufe authentisch nachzuerleben. Mal hielt wieder der Würfel dafür her, das Duell in der Sandgrube zwischen dem Engländer Lynn Davies und den Amerikanern Ralph Boston oder Bob Beamon (8,90 Meter 1968 in der Höhenluft von Mexiko City!) zu simulieren. Mal errichtete ich mit Legosteinen und einem Bleistift eine feine Hochsprunganlage, vor der ein dicker Radiergummi so geschickt aufzusetzen war, dass er die Latte mühelos überwand. Der Radiergummi hieß abwechselnd Dick Fosbury, Valeri Brumel und Gunther Spielvogel und vollbrachte mitunter famose Leistungen. Meine Mutter sah diesen Freizeitbeschäftigungen gelassen zu. Welche Resultate ihr Sohn dort mit Gummi und Notizpapier peinlich genau festhielt, blieb ihr schleierhaft, doch angenehm war gewiss, dass ihr Kind sich gut selbst zu beschäftigen wusste.

Nicht immer schlug mein Herz für die glorreichen Sieger. Sosehr ich es bewunderte, wenn Läufer wie Kipchoge Keino oder Lasse Viren Gold errangen, so stark fühlte ich mit, wenn ein großer Athlet im entscheidenden Moment versagte und seine Weltrekorde nie in einen olympischen Sieg ummünzen konnte. Wie ich im Radsport mit dem Franzosen Raymond Poulidor litt, der fünfmal die Tour de France als Zweiter beendete, so hoffte ich inständig darauf, dass der Australier Ronald Clarke endlich Gold gewinnen möge.

Pulverisiert hatte er mehrfach die Langstreckenrekorde und die 10.000 Meter als erster Mensch unter 28 Minuten gelaufen. Doch bei Olympischen Spielen spielte das Schicksal dem Tempoläufer übel mit. Mit schlechten Spurtqualitäten ausgestattet, wurde Clarke in der Schlussrunde regelmäßig überlaufen und konnte letztlich froh sein, 1964 zumindest eine Bronzemedaille errungen zu haben. Melancholisch leidend blickte Clarke seinen Gegnern hinterher; und ich wusste plötzlich, dass eine Niederlage unsterblich machen kann.

Mein größter Olympiaheld startete jedoch in den Wurfdisziplinen, die ich als Aktiver am ehesten mit Anstand bewältigte. Kugelstoßen lag mir, wenngleich sich meine Eltern standhaft weigerten, mir zu Weihnachten die auf den Wunschzettel notierte Eisenkugel unter den Baum zu legen. Die Gefahr, ich könnte vom Radiergummihochsprung ablassen und mich im Wohnungsflur als Kugelstoßer wie Randy Matson oder Heinfried Birlenbach erproben, schien den Erziehungsberechtigten zu groß.

Jedenfalls ist die Rede vom Diskuswerfer Al Oerter, ein Recke, dessen Name noch heute in Osterladekop oder Jork mit Ehrfrucht genannt wird. Viermal hintereinander, von 1956 bis 1968, gewann der Amerikaner Gold. Nie war er Favorit, aber immer verstand er es, im richtigen Moment stärker eingeschätzte Konkurrenten wie Ludvík Danek oder Jay Silvester abzuhängen.

Oerter war einfach mein Mann. Als er es als Mittvierziger noch einmal wissen und 1980 einen neuerlichen Goldmedaillenanlauf unternehmen wollte, erwachte mein olympisches Interesse von neuem. Doch die Amerikaner boykottierten (wegen Afghanistan, angeblich, schätzungsweise aber, weil sie im Medaillenspiegel des Kalten Kriegs verloren hätten) die Moskauer Spiele …

Heute malt Oerter (siehe www.aloerter.com) Bilder, die „Herbstblätter auf blauem VW-Bus“ oder so heißen. Ich werde ihn in Athen vermissen. Aber trotzdem das Diskuswerfen anschauen und zwischendurch an Edward Adamczyk denken. 2006 ist dann Fußballweltmeisterschaft.

RAINER MORITZ, 46, publiziert Bücher mit und ohne sportlichen Bezug, zuletzt etwa „Vorne fallen die Tore. Fußballgeschichte(n) von Sokrates bis Rudi Völler“ (München 2004) und „Mit Proust durch Paris“ (Frankfurt 2004)