Der Osten in mir

Anfangs meinte ich, es gäbe sie gar nicht, die Ostlerin in mir. Dann aber wurde sie ganz groß, trug rosarote Brillen und wohnte fortan in einem Erinnerungshotel

Es war eine andere Freiheit, die wir vor zwanzig Jahren meinten. Aber das Wir war damals schon eine Minderheit und brüchig

Von Annett Gröschner Den Jahreswechsel 1988/89 verbrachte ich auf einem Dach. Die Dächer im Prenzlauer Berg waren damals ein guter Ort. Man stand über den ganzen beschissenen Verhältnissen, nah am Himmel, und alle paar Minuten flog eine Maschine über einen hinweg, um Minuten später hinter der Mauer in einer anderen Welt zu landen. Der Mann von der Staatlichen Versicherung hatte mir ein paar Monate zuvor die Hausrat-Haftpflicht-Versicherung mit Schutz gegen Flugzeugabsturz verkauft. Falls mal eins runterfällt. Einmal träumte ich, ich hätte es geschafft, in so einem Flugzeug zu sitzen. Aber kurz vor Tegel stürzte es ab und ich saß mit allen anderen Passagieren auf einem Hügel neben den Trümmern und wusste im Traum, dass es immer noch der Prenzlauer Berg war. Immer noch Osten.

Ich sitz da heute noch, als Teil einer Minderheit, die an etwas festhält, was sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Nicht dass ich mich nicht auch verändert hätte. Die Ostlerin in mir ist im Laufe der Jahre geschrumpft. Am Anfang habe ich gemeint, es gäbe sie gar nicht. Dann wurde sie aus Gnatz ganz groß, trug rosarote Brillen und wohnte in einem Erinnerungshotel, zusammen mit Frauen, die die Kaiserzeit noch kannten, die aber alle gestorben sind. Im Moment ist die Ostlerin in mir nicht mehr als ein Überbein. Es hat keinen Zweck, es wegzuoperieren, es wächst immer nach. Stört aber auch nicht besonders beim Laufen.

Heute fliegen die Flugzeuge über Hohenschönhausen nach Tegel ein, und da, wo wir früher unsere Wäsche aufgehängt haben, wohnen Leute, die im Treppenhaus durch einen hindurchsehen, in teuren Dachgeschosswohnungen. Wegen der Angst vor Dieben haben die Dachluken Vorhängeschlösser, und die Übergänge zu den Nachbardächern sind mit Stacheldraht versperrt. Um die Ecke wird ein Haus gebaut, in dem eine Wohnung 1 Million Euro kostet und deren Wohlfühlcharakter laut Werbung durch zahlreiche Parks geprägt wird. Die Ostlerin in mir ist empört: Millionengemütlichkeit, auf wessen Kosten? Sie weiß aber, nichts als Blendwerk, vier der fünf Parks sind Friedhöfe.

Es war eine andere Freiheit, die wir vor zwanzig Jahren meinten und die mit Eigentum nichts zu tun hatte. Aber das Wir war damals schon eine Minderheit und brüchig. Heute frage ich mich: Bin ich eine Ostlerin, weil Geld für mich notwendiges Übel ist und das Unwichtigste am Wert eines Menschen? Oder ist das nicht doch alles andere als eine Frage der Himmelsrichtung?

Auf dem Dach war es glatt, denn es war ein kaltes Silvester 1988. Kurz nach dem Jahreswechsel stürzten im Karree vier Personen mitsamt einem baufälligen Balkon in die Tiefe. Einer von ihnen starb, die anderen verletzten sich schwer. Kein guter Anfang für das Jahr, aber auch nichts, was überraschen musste. Wir wohnten an einem maroden Ort. Die meisten Balkons waren gesperrt, aber man benutzte sie trotzdem. Um Hanf anzubauen, wenn die Lichtverhältnisse es zuließen. Oder für Mutproben. Auf manchen Dächern gab es Löcher, breit wie die Schultern von Kohlenträgern, und den Leitern zu den Dachluken fehlte mindestens die Hälfte der Sprossen.

Eigentlich war es mir in dieser Silvesternacht des Jahres 1988 verboten, mich auf einem Dach zu bewegen. Ich hatte strenge Bettruhe. Ich war im 7. Monat schwanger, das Kind wollte vorzeitig auf die Welt. Es hatte seine Gründe, und, so wusste ich wenige Tage später, es ließ sich auch nicht aufhalten. Ich hatte meine Rat- und Hoffnungslosigkeit nicht von ihm fernhalten können. Ich teilte sie mit denen, die bleiben wollten, während die, die aus dem Land wollten, ein Gefühl von Wut in die Kirchen trieb, von denen eine, die Gethsemanekirche, nur hundert Meter von dem Dach entfernt, auf dem ich stand, im Laufe des Jahres als Ort des Protestes weltberühmt werden würde. Die WELT hat neulich gerügt, wir Ostler sollten nicht Wende sagen, sondern Revolution. Befehl von rechts.

Das Kind in meinem Bauch hieß Malina. Ich hatte mir den Namen bei Ingeborg Bachmann ausgeborgt, deren Gedichte ich liebte, genauso wie die anderer, eindeutigerer Selbstmörderinnen: Sylvia Plath, Anne Sexton und Inge Müller. Selbstmord war ein möglicher Ausweg aus den versteinerten Verhältnissen. Die anderen hießen innere Emigration oder Ausreise in den Westen. Letzteres kam für mich schon deswegen nicht infrage, weil ich wusste, dass das Dasein einer alleinerziehenden Mutter dort eher demütigend sein würde. Hier im Karree war es Usus. Wir konnten uns auf die Männer nicht verlassen, egal, es ging auch ohne sie.

Mein Kind ist später in einer Frauen-WG aufgewachsen. Quotenostfrau war und ist die schlimmste Rolle. Spiele ich sie jetzt in diesem Moment nicht auch wieder? Ausgestopft im DDR-Museum. Der Besucher drückt einen Knopf auf dem Bauch, und die Ostfrau singt Lieder von Kurt Demmler, Paul Dessau oder Hartmut König, alle Strophen.

Ich weiß nicht mehr, was wir uns dort auf dem Dach zu Silvester 1988 gewünscht haben. Niemand von uns ahnte, dass dieses Jahr fast alles verändern würde. Dass die Mauer so schnell, so unblutig und relativ unkompliziert fallen würde, dafür fehlte uns die Fantasie. Zwar hatten wir munkeln hören, dass die DDR pleite war, aber war sie das nicht von Anfang an? Wir wussten auch noch nicht, dass uns die neuen Verhältnisse trennen würden. Mit keinem damals auf dem Dach bin ich heute noch befreundet. Wir haben uns nicht verstritten, die neuen Verhältnisse haben uns einfach entfremdet.

Zwanzig Tage später kam das Kind auf die Welt. Sieben Wochen zu früh. Ein aus dem Nest gestürzter Vogel, der in zwei Hände passte und aufgepäppelt werden musste. Wider Erwarten war es ein Junge. Zwischen uns war eine Glasscheibe. Draußen fiel Schnee.

Vor einigen Wochen habe ich die Reklame einer Krankenversicherung gesehen, die damit angab, wie viel Geld sie im Therapiefall für die Versicherten ausgeben würde. In der Liste standen auch 134.000 Euro für die Frühgeborenenfürsorge. Die Werbung hat mich empört, weil sie auf kaum verdeckte Weise auch das Gegenteil implizierte: Das Kind stirbt, weil du dir eine Versicherung nicht mehr leisten kannst. Vor zwanzig Jahren wäre niemand, weder in Ost noch in West, auf die Idee gekommen, einem die Kosten für die Aufzucht eines Frühgeborenen vorzurechnen.

Damals empfand ich ganz andere Dinge als Zumutung. Ein Kind bekommen, du konntest nicht mehr so einfach wegrennen, dich nicht verstecken vor dem System, genauso wenig wie das Kind. Kaum geboren, bekam es eine Personenkennzahl, damit es den Behörden nicht verloren ging. Kamen die Frauen der Mütterberatung in die Wohnung und schauten zweimal hin, ob das Kind auch wirklich nicht im Chaos aufwuchs, wobei man nie wissen konnte, ob Chaos nicht schon heißen konnte, eine andere Meinung zu haben. Mich empörte der Brief vom Rat des Stadtbezirkes, der die Ankunft des neuen Erdenbürgers in der sozialistischen Welt begrüßte, ein liebloses, hektografiertes Papier. Ich dachte daran, dass ein Junge eines Tages zur Armee müsste.

Als mein Sohn 2007 ausgemustert wurde, wollte ich feiern. Er hat nur abgewunken. Für ihn hatte es keine Bedeutung. Der Ostlerin in mir sagt schon zum zweiten Mal im Leben, dass wir in Afghanistan nichts zu suchen haben. Beim ersten Mal gab’s Ärger, heute interessiert es niemanden.

Statt einer Personenkennzahl hat mein Sohn heute eine Persönliche Identifikationsnummer vom Finanzamt. Die bekommt man auch schon bei der Geburt. Die Ostlerin in mir kriegt einen ganz dicken Hals, wenn einer ihr sagt, wer nichts zu verbergen hat, braucht sich vor Überwachung nicht zu fürchten.

Im Frühsommer 1989 fuhr ich mit dem Kind um den Block und dachte, wer sagt, ob sie nicht hier auch schießen wie auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Zwei Monate später schlossen eine Menge Leute in meiner Umgebung ihre Wohnungen ab, warfen die Schlüssel in die Spree und machten sich auf durch das Loch im Zaun in den Westen, ohne sich umzusehen.

Die Tage zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November 1989 habe ich erlebt wie im Rausch. Endlich kam etwas in Bewegung. Und das Kind war immer mit dabei. Bis heute kann es keine Demonstrationen ertragen, es waren einfach zu viele damals.

An dem Tag, als die Mauer fiel, war ich nicht glücklich. Das ist heute schwer zu erklären, aber ich ahnte, dass es von da an weniger um Demokratie und mehr um Konsum gehen würde. Während wir noch anarchistische Kindergeburtstage feierten, verscheuerte die Treuhand hinter unserem Rücken das Tafelsilber und entsorgte das Aluminiumbesteck. Vielleicht war der Umbruch auch deshalb so friedlich, weil es nichts gab, das sich zu verteidigen lohnte.

Die letzten zwanzig Jahre sind in meiner Erinnerung schneller vergangen als die zwanzig davor. Vor zwei Wochen habe ich den letzten Strich an den Türrahmen gemacht. Das Kind war dem Ritual nur noch widerwillig gefolgt. Es ist seit dem letzten Jahr noch sechs Millimeter gewachsen und hat die Einsneunzig-Marke erreicht. Ich fürchte, bei den Mietsteigerungen in unserem Viertel werden wir uns den Türrahmen bald nicht mehr leisten können. Wir diskutieren jetzt öfter, wo wir dann wohnen werden, jeder für sich.

Diskussionen über Ost und West sind für meinen Sohn ein Relikt aus früheren Zeiten. Einmal schrie er in der Frauen-WG, ihr Ostler, hört auf mit eurer Ostsprache. Wir hatten berlinert.

Heute geht es ihm um oben und unten, um Nord und Süd, um das Klima und die Rolle Amerikas. Dabei scheint es, als sei er durch nichts zu erschüttern.

Angesichts der Finanzkrise im Herbst – die Ostlerin in mir kicherte hämisch, dabei lebt sie selbst über ihre Verhältnisse – musste ich an den Satz des Liedermachers Gerhard Gundermann denken, der auch schon einige Jahre tot ist und der sehr genau das beobachtete, was uns damals geschah. Er verglich den Osten und den Westen mit den beiden Autos, die das jeweilige System repräsentierten. Beide rasten auf einen Abgrund zu. Während der Trabant sofort nach unten fiele, flöge der Mercedes einfach ein bisschen länger. Ich sitze in beiden Autos und schreibe alles mit, während wir fliegen.

Annett Gröschner, 44, ist Schriftstellerin, Journalistin und Dozentin für Kulturjournalismus. Zuletzt erschienen von ihr „Parzelle Paradies. Berliner Geschichten“ (Edition Nautilus 2008) und zusammen mit Arwed Messmer „Verlorene Wege“ (Verlag für Moderne Kunst Nürnberg, 2009) über den Uranabbau bei der Wismut