Das Herz schlägt schwäbisch

„Bierstube“ steht am Wirtshaus von Ófalu – doch die Männer an der Theke sprechen ungarisch. Die geschlossene Kultur der Ungarndeutschen löst sich auf, sie hat wenig Platz zwischen ungarischem Nationalismus und dem Drang nach Europa

„Übrig bleiben oft nur noch deutsche Tanzgruppen und Singekreise“

von THOMAS GOEBEL

Anton Hoffmann kommt jede Woche nach Ófalu. Hier wurde er vor 53 Jahren geboren, hier ist er aufgewachsen, hier kennt er jedes Haus. Vor ein paar Monaten hat er einem Jungen ein paar tausend Forint in die Hand gedrückt, damit der ihm dreißig kleine Linden aus dem Wald holt und an der Dorfstraße pflanzt. Sein Dorf soll schön aussehen. Hoffmann wohnt in Pécs, der 35 Kilometer entfernten südungarischen Regionalhauptstadt, dort hat er seine Firma, eine Druckerei. Aber zu Hause ist Hoffmann in Ófalu. Wenn er in seinem dunkelgrünen BMW durchs Dorf rollt, kurbelt er das Seitenfenster herunter, winkt, sobald er einen Menschen auf der Straße sieht. „Servus“, grüßt Hoffmann immer wieder. Nur manchmal ruft er einem Dorfbewohner „Szia“ zu. „Der ist Ungar“, erklärt er dann, „der kann kein Deutsch, der hat hier eingeheiratet.“ In den Fünfzigerjahren, als Hoffmann noch ein Kind war, konnte jeder in Ófalu Deutsch, die meisten hatten Mühe, Ungarisch zu sprechen. Die 104 Häuser des Dorfs liegen versteckt zwischen den waldigen Hügeln im südwestlichsten Zipfel Ungarns. Die Dörfler waren seit Generationen unter sich geblieben, geheiratet wurde in die deutschen Siedlungen der Umgebung, Ungarn kamen selten nach Ófalu. Auch die sowjetische Armee übersah das Dorf, als sie 1944 ins Land einmarschierte.

Die Region im Südwesten, die Baranya, war beinahe menschenleer, als die Türken 1699 aus Ungarn vertrieben worden waren. Das Land brauchte Zuwanderung. Also setzten die Habsburger als neue Machthaber ein Kreuz auf die Kuppel der alten Moschee in Pécs und sahen sich nach gut katholischen Einwanderern um. Sie fanden sie im Südwesten Deutschlands: arme Handwerker und Bauern, die sich ein besseres Leben in Ungarn erhofften. Im Laufe des 18. Jahrhunderts besiedelten die Zuwanderer, die man allesamt Schwaben nannte, immer mehr Dörfer in der Region, und so wurde auch Ófalu ein „schwäbisches Dorf“. Auf dem Friedhof bei der alten Kirche stehen heute noch verwitterte Grabsteine mit deutschen Worten und Namen: „Hier ligt begraben Elisabetha Hartlinin“ ist in ein steinernes Kreuz graviert; es trägt die Jahreszahl 1748.

In Ófalu hat sich seitdem nicht viel verändert. Entlang der Dorfstraße stehen kleine Häuser, in den Gärten wächst Gemüse, vor dem Rathaus weht die ungarische Fahne. Etwas weiter die Straße hinunter liegt das Wirtshaus. „Bierstube“ steht über der Tür, aber die Männer und Frauen an der Theke sprechen ungarisch, auch der Wirt. Anton Hoffmann sitzt an einem Tisch in der Ecke und schüttelt den Kopf. „Der Sprachverlust hier, das ist eine Katastrophe.“ Natürlich, Ungarisch müssen alle können, das weiß er auch. Schließlich hat er ein eigenes Unternehmen in Pécs aufgebaut, sein Leben spielt sich zu großen Teilen auf Ungarisch ab. „Aber hier im Wirtshaus könnten die doch Schwäbisch reden, die können es doch noch“, meint er. Melancholisch klingt das, auch resigniert. Der Bau der Anbindungsstraße 1974, sagt Hoffmann, sei ein Segen gewesen für die Bevölkerung von Ófalu, aber ein schwerer Schlag für das „Deutschtum“ im Dorf.

Was „Deutschtum“ für ihn bedeutet, kann Hoffmann nicht erklären.

Wortkarg wird der Mann, der sonst eine Geschichte nach der anderen erzählt, wenn er nach Begründungen gefragt wird, nach Begründungen dafür, warum ihm seine Herkunft so wichtig ist. Es schmerze ihn eben, sagt er, und klinge fast trotzig, wenn die Leute immer weniger Deutsch miteinander redeten und allmählich vergäßen, dass sie doch eigentlich Deutsche seien. Dann beginnt er, Geschichten aus seiner Kindheit zu erzählen. Dass seine Eltern mit ihm nur Deutsch sprachen, in einem alten fränkischen Dialekt. Wie er in der Schule gehänselt worden sei von anderen Kindern, die besser Ungarisch konnten als er. Und dass ihn die Lehrer bestraften, wenn sie ihn in der Pause beim Deutschreden erwischten. „In der Schule spricht man Ungarisch“, musste er dann aufschreiben, hundertmal.

„Für uns ungarische Schwaben ist die doppelte Identität bezeichnend“, sagt Johann Schuth. Der schmächtige Mann im Flanellhemd sitzt am Schreibtisch, im Regal neben ihm stapelt sich das druckfrische „Jahrbuch der Ungarndeutschen“. Schuth ist kein Geschichtenerzähler wie Anton Hoffmann, er analysiert, das gehört zu seinem Beruf. Schuth ist Chefredakteur der Neuen Zeitung, des Blatts der Ungarndeutschen, wöchentlich herausgegeben mit finanzieller Hilfe des ungarischen Staats. Wer will, kann sich hier über Mundartwettbewerbe informieren, über zweisprachige Schulen, über Jahrestreffen von Musikkapellen. Auch Schuth beklagt den Sprachverlust der Ungarndeutschen. Immer mehr deutschsprachige Dörfer und Familien lösen sich auf, die geschlossene Kultur der Ungarndeutschen verschwindet. Übrig blieben oft nur noch „Tanzgruppen und Singekreise“. Bei der Millenniumsfeier des ungarischen Staats im Jahr 2000 seien die Minderheiten überhaupt nicht erwähnt worden. Dabei hatte der ungarische Staat nach der Wende 1989/90 viel getan: 1993 beschloss das erste frei gewählte Parlament ein Gesetz, das 13 Minderheiten im Land offiziell anerkennt – von den Roma, der größten Gruppe, über Deutsche, Kroaten und Slowaken bis zu Armeniern und Ruthenen. Kulturelle Autonomie wird ihnen in dem Gesetz zugesichert und das Recht, alle vier Jahre einen örtlichen Vertreter ihrer Minderheit zu wählen.

Nationale Strömungen, meint Anton Hoffmann, habe das Gesetz aber nicht verhindern können. „Ich hasse den Nationalismus“, sagt er. Manchmal allerdings, wenn er in der Bierstube von Ófalu besonders heftig über die ungarische Politik wettert, werfen ihm Freunde vor, er sei ja selbst Nationalist – ein schwäbischer. „Denen antworte ich immer: Ich darf das, ich bin Minderheit!“ Natürlich findet auch Hoffmann, dass sich die Situation der Minderheiten nach dem Ende des Kommunismus und mit dem neuen Gesetz gebessert hat. Trotzdem sei die ungarische Gesellschaft immer noch auf Assimilierung, auf Anpassung der Minderheiten, ausgerichtet. Er erzählt, wie er nach dem Tod seiner Mutter den katholischen Priester bat, dass die Beerdigung auf Deutsch zelebriert wird. „Der Priester hat einfach Nein gesagt – mit der Begründung: ‚Wir sind hier in Ungarn!‘ “

Gerade deshalb hängt Hoffmann an seiner Herkunft, will seine Minderheitskultur bewahren vor ungarischem Nationalismus einerseits und der völligen Auflösung in der mobilen Gesellschaft auf anderseits: „Meine Heimat liegt zwischen diesem Hügel und dem da drüben“, sagt er und zeigt mit den Armen rechts und links aus den Fenstern der Bierstube von Ófalu, „und diese Hügel liegen in Ungarn.“ Er sei ungarischer Staatsbürger, und es gehe ihm gut. Aber er sei auch Deutscher, und auch als solcher wolle er sich in Ungarn wohl fühlen.

Auf dem Rückweg von Ófalu nach Pécs fährt Hoffman immer eine kleine Runde durchs Dorf, vorbei an seinem Elternhaus, ganz hinten, wo schon fast der Wald beginnt. Voriges Jahr hat er das Haus komplett renovieren lassen und es seinem Sohn geschenkt. Der studiert Wirtschaft in Pécs, war gerade für ein Jahr in London, davor ein Semester in Bonn. Aber das Haus in Ófalu, das hat der Sohn dem Vater versprochen, das wird er nicht verkaufen – auf keinen Fall.