Die Herausforderung von Kundus

Ein Wiederaufbauteam der Bundeswehr wäre in der afghanischen Stadt willkommen. Jede politische Einmischung vor Ort wird sein Risiko erhöhen

aus Kundus PETER BÖHM

Am eindrücklichsten wirkt Kundus, eine Stadt mit 200.000 Einwohnern in Afghanistans Nordosten, mittags, wenn die Augustsonne im Zenit steht und fast 50 Grad im Schatten gemessen werden. Die Jagd nach Trinkbarem ist lebenswichtig geworden, den knöcheltiefen Staub der Straße haben die Autos zu einem dichten Nebel hochgewirbelt, der die Haare verfilzt und die Nase verstopft, die trotzdem den durchdringenden Gestank von den Abwassergräben am Rande der Straße wahrnimmt. Willkommen in Afghanistan. Willkommen in dem Land, das gerade zwei Jahrzehnte Bürgerkrieg überstanden hat, das immer wieder von Kämpfen zwischen Taliban und Regierungs- oder amerikanischen Besatzungstruppen erschüttert wird und in dem die internationale Gemeinschaft jetzt damit beschäftigt ist, unter widrigsten Bedingungen wieder ein Staatswesen aufzubauen.

Alles deutet darauf hin, dass sich die deutsche Bundeswehr über ihr bisheriges Engagement in Kabul hinaus daran beiligt. Die Bundesrepublik will ein Regionales Wiederaufbauteam (PRT) nach Kundus entsenden (siehe Text unten.) Der Einsatz ist eine Herausforderung. Wie groß diese Herausforderung sein wird, hängt davon ab, wie die Bundeswehr das Konzept der PRTs umsetzen wird. Das US-Team in Kundus, das die Deutschen im Frühjahr 2004 ersetzen wollen, hat es ausgesprochen weit ausgelegt.

PRT-Teams wurden ursprünglich von den Amerikanern im Herbst 2002 geschaffen, um dem „Krieg gegen den Terror“ ein besseres Image zu geben. Offiziell sollten die Teams in vier afghanischen Provinzen die Infrastruktur wieder aufbauen. Das Team in Kundus mit rund 40 Soldaten beauftragte lokale Firmen, die Schulen der Provinz zu renovieren, und finanziert den Umbau eines Studentenwohnheimes in ein großes neues Krankenhaus. Aber es hat auch Razzien gegen mutmaßliche Taleban- und Al-Quaida-Kämpfer durchgeführt und sich massiv für die Zentralregierung des Übergangspräsidenten Hamid Karsai eingesetzt und sich damit in das Gerangel der regionalen Warlords eingemischt.

Wiederaufbau ist in Kundus und der umliegenden Provinz sicherlich die dringendste Aufgabe. In der Schirikan-Oberschule zum Beispiel, der größten Lehranstalt für Jungen, könnten wohl 1.000 Schüler bequem Platz finden. Im Augenblick gehen dorthin jedoch 8.000 Jungen. Sie kommen in drei Schichten. Dennoch mussten sieben Zelte im Schulhof aufgebaut werden, und in einigen Klassen sitzen über 100 Schüler. Das amerikanische PRT hat zwar neue Fenster und Türen einsetzen sowie die Wände streichen lassen. Aber was wirklich fehlt, sind Klassenräume.

Ebenso dringend ist der Wiederaufbau im Gesundheitssektor. Das alte Krankenhaus in Kundus wurde in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut. Ein Rundgang darin ist nichts für Zartbesaitete. Auch hier stehen im Hof Zelte für die Patienten, und der Operationssaal gemahnt in Hygiene, Ausstattung und Geruch an die Abstellkammer einer Putzkolonne.

Die Spuren der Arbeit des US-Teams sind also in Kundus zu sehen, die Soldaten selbst so gut wie nie. In ihren großen Geländewagen – ohne Nummernschilder und mit verspiegelten Scheiben – verlassen sie ihr lehmummauertes Grundstück fast nur, um die Ablösung vom Flughafen abzuholen. Mitte Juni durchsuchten die Soldaten jedoch das Grundstück des Chefs der örtlichen Delegation des Roten Kreuzes, eines vormaligen Warlords. Die Amerikaner fanden ein großes Waffenlager, einschließlich zweier Stinger-Raketen, mit denen man fast jedes Flugzeug vom Himmel holen kann.

Einen Monat darauf intervenierten die Amerikaner im Sinn der Zentralregierung in Kabul. Das Ministerium für Handwerk und Landwirtschaft hatte einen neuen Direktor der staatlichen Baumwollverarbeitungsfabrik in Kundus ernannt. Der alte Direktor, früherer Mudschaheddin-Kommandeur, wollte seinen lukrativen Posten jedoch nicht aufgeben. „Er hat nur die staatlichen Zuwendungen eingestrichen, aber die Produktion in der Fabrik hat stillgestanden“, sagt der neue Direktor Mohammed Aslan Ajanpur. Nach der Intervention des amerikanischen PRTs bei den lokalen Machthabern musste er schließlich gehen.

Sollte auch das deutsche Wiederaufbauteam versuchen, zur Ausweitung des Machtbereiches der Zentralregierung beizutragen, erwartet es in Kundus ein ebenso komplexes Machtgefüge wie überall im nach-talibanischen Afghanistan. Zwar hat es im Nordosten seit dem Sturz der Koranschüler durch die Nordallianz im Oktober 2001 keine größeren Kämpfe mehr gegeben; Konfliktpotenzial dafür gibt es aber genug. Die stärkste Fraktion der Nordallianz ist die von Tadschiken dominierte Dschamaat-i-Islami-Partei des Verteidigungsministers Mohammed Fahim. Stellvertreter Fahims in Kundus und gleichzeitig Chef der 6. Armeegarnison der Provinz ist General Daud Mohammed. Nicht alle Dschamaat-Warlords unterstellen sich jedoch seinem Kommando. Gouverneur der Provinz ist Abdullatif Ibrahim. Er ist Usbeke und verbündet mit dem zweiten großen Kriegsfürsten des Nordens, Raschid Dostum. Die mit Dostum verbündeten Kommandeure und die der Dschamaat kämpfen regelmäßig in der Region von Masar-i Scharif, der größten Stadt des Nordens. Da in Kundus und einigen Dörfern außerhalb rund die Hälfte der Bevölkerung Paschtunen sind, jener ethnischen Gruppe also, die mehrheitlich im Süden und Osten Afghanistans lebt, ist der Polizeichef von Kundus ein paschtunischer Mudschaheddin. Wenn es sein muss, agiert er unabhängig von Gouverneur und Armeechef.

Wie leicht es zu Kämpfen zwischen den Warlords der Region kommen kann, zeigte sich erst vergangene Woche, als ein Auto des Polizeichefs von Tahar, der Nachbarprovinz von Kundus, in Kabul mit einer großen Menge Opium im Kofferraum konfisziert wurde. Kabul setzte ihn ab, seine Kommandeure drängten ihn jedoch, zu den Waffen zu greifen, um seinen Posten zu verteidigen. Immerhin tat er nur, was alle tun, denn es ist kein Geheimnis, dass die Warlords in Afghanistan in den Drogenhandel verwickelt sind. Typischerweise nehmen sie zehn Prozent des Ernteerlöses und gewährleisten dafür, dass das Opium sicher und schnell durch ihren Machtbereich transportiert wird. Der Armeechef von Kundus, General Daud Mohammed, ist gar verdächtig, mit Hilfe von Experten aus Birma mehrere Heroinlabore zu betreiben. Der Export der fertigen Droge bringt weit mehr Profit als der des Rohstoffes.

Jeder, den man in Kundus fragt, ist dafür, dass ausländische Soldaten in der Stadt stationiert bleiben. Doch die Gefahren für ein isoliertes deutsches Team werden umso größer, je mehr es versucht, sich für Kabuls Zentralregierung stark zu machen.