„Migranten haben keinen Persilschein“

Dogan Akhanli und Heinz Humbach vom NS-Dokumentationszentrum über Verantwortung von Migranten für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit. Türken, Kurden oder Griechen, die auf Dauer in Deutschland leben, sollen wissen, wohin Rassismus führen kann

taz: Am Beispiel der NS-Vergangenheit sollen Migranten einen kritischen Umgang mit Geschichte erlernen, um so die Bundesrepublik richtig verstehen zu können. Was heißt das konkret?

Dogan Akhanli: In der Türkei wurde Türken oder Kurden nie ein kritischer Umgang mit Geschichte vermittelt,sondern eine staatstreue Linie. Wir kennen keine Vergangenheitsbewältigung. Von daher haben türkischstämmige Migranten in Deutschland eine andere Haltung zur Geschichte. Sie verdrängen und verleugnen aufgrund der eigenen Geschichte und haben auch kein Interesse, dies zu ändern. Und diese Haltung finde ich für uns Migranten sehr problematisch. Sie fordern immer ihre Rechte als Minderheit, aber sie sind nicht bereit, für den selbst verursachten Rassismus Verantwortung zu übernehmen. Deshalb wollen wir ihnen einen anderen Umgang ermöglichen. Denn auch Migranten haben nicht nur Rechte, sondern als Teil der deutschen Gesellschaft auch Pflichten.

Heinz Humbach: Die Türkei ist ja nun nicht immer als demokratisches Land bekannt, also auch dort hat es Terror und Unterdrückung gegeben. Man kann Vergleiche ziehen und erfahren, wohin Rassismus führt. Wohin führt das, wenn ich andere Leute wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen nationalen, religiösen oder sonstigen Gruppierung eben für weniger wertvoll halte. Was ist am Ende das Ergebnis? Und als Immigrant ist man dem heutigen Rassismus und Nationalismus besonders ausgesetzt. Von daher müsste man als Türke, Kurde oder Grieche, der auf Dauer hier lebt, wissen, wohin Rassismus führen kann. Also zu begreifen, egal welche Hautfarbe oder Nationalität nun der eigene Gott oder Nachbar hat, dass dies nicht maßgebend dafür ist, wie man zu ihm steht. Zu erkennen, wenn ich meine eigenen Rechte wahrnehmen will – ob religiös oder kulturell –, dann muss ich auch dazu beitragen, dass andere ihre Rechte wahrnehmen können.

Das sind aber Prozesse, die ihre Zeit dauern und nur durch Wissen vermittelt werden können.

Akhanli: Das stimmt. Die meisten türkischstämmigen Migranten wissen nichts über Rassismus und Rechtsextremismus. Aber nur weil Türken oder Immigranten Opfer von Rechtsextremismus sind, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht auch rassistisch oder antisemitisch sind. Wir sind ja nicht mit leeren Köpfen gekommen, aber viele denken, dass sie als Migranten einen Persilschein haben. Wenn wir den Immigranten bei solchen Auseinandersetzungen eine Sonderbehandlung zukommen lassen, dann schüren wir einen positiven Rassismus. Das ist ein Problem. Wir Türken und Kurden haben viele Konflikte – ob nun verachtende Redewendungen, sexistisches Verhalten oder sonst was. Ich persönlich werde ja sogar von meinen türkischen Freunden als israelischer Geheimagent denunziert und beschimpft, weil ich über den Armeniergenozid schreibe. Mit diesen Führungen wollen wir sensibilisieren und zeigen, wie man mit Geschichte umgehen kann.

Humbach: Mein besonderes Interesse an der Aufarbeitung der Nazizeit rührt natürlich auch von meiner persönlichen Vergangenheit her. Aber als Ausländer oder Bürger mit einem anderen Pass, reicht ein Faktenwissen allein über diese Zeit nicht aus. Denn was nützt es, zu wissen, dass 6 Millionen Juden umgebracht wurden, wenn jemand sagt, was soll’s, das hat ja mit uns nichts zu tun? Genau an dieser gefährlichen und arroganten Haltung möchten wir ansetzen. Darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen haben sich die Leute damals angepasst, mitgemacht und sind dann Schritt für Schritt vom ganz gewöhnlichen Deutschen zu Schuldigen, Tätern oder Mittätern geworden.

INTERVIEW: SEMIRAN KAYA