„Präzedenzfall Kosovokrieg“

Interview: FRANZ HUTSCH

taz: Herr Loquai, vier Jahre nach Kriegsende im Kosovo geben Sie immer noch keine Ruhe. Warum?

Heinz Loquai: Weil es sich hier um eine der wichtigsten staatspolitischen Fragen überhaupt handelt. Es geht um die Frage, wie kommt es zu Kriegen und welche Rolle spielen Verfassungsorgane eines demokratischen Staates auf dem Weg dorthin. Der Weg in den Krieg gegen Jugoslawien ist bis heute keinesfalls kritisch und umfassend beleuchtet worden. Eine Aufarbeitung ist nicht nur wissenschaftlich-historisch interessant. Wenn ich mir die Begründung für den Irakkrieg anschaue, dann erleben wir doch genau das gleiche Phänomen wie im Kosovo: Zwar verfügen Regierung und Parlament über zuverlässige Informationen von Nachrichtendiensten. Doch diese Informationen werden so manipuliert, dass sie den Weg für den Krieg ebnen und friedliche Lösungen verbauen. Was für die Legitimierung des Irakkrieges die Massenvernichtungswaffen sind, waren für den Krieg gegen Jugoslawien „Völkermord“ und „humanitäre Katastrophe“.

Der Reihe nach. Der breiten Öffentlichkeit wird der Bürgerkrieg im Kosovo erst im Herbst 1998 bewusst, als die Nato ihren Streitkräften den Marschbefehl erteilt.

Die „Activation Order“ der Nato wird unter ganz merkwürdigen Umständen beschlossen. Nach Darstellung des US-Sondergesandten Richard Holbrooke am 13. Oktober 1998 im Nato-Rat sollte sie notwendig sein, um Milošević zum Einlenken zu bewegen und eine friedliche Lösung des Konfliktes anzustreben. Doch es gibt mehrere Indizien, so ein Papier des Auswärtigen Amtes, wonach die Einigung zwischen Holbrooke und Milošević bereits am 12. Oktober zustande gekommen war. Der Nato-Rat wurde also wahrscheinlich getäuscht, um den Einsatzbefehl für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zustande zu bringen.

Aus welchem Grund sollte die Nato hinters Licht geführt worden sein?

Die USA wollten wohl Bedingungen schaffen, die es rasch ermöglichten, einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zu beginnen. Die beschlossene Activation Order erlaubte es dem Nato-Generalsekretär zu einem späteren Zeitpunkt, über den Beginn des Luftkrieges zu entscheiden, ohne dass sich die Parlamente erneut damit befassen mussten. Es war ein Vorratsbeschluss für einen Krieg.

In Ihrem neuen Buch „Weichenstellungen für einen Krieg“ zeigen Sie, dass es Diskrepanzen zwischen den Informationen der Bundesregierung und des Bundestages und deren Entscheidungen gab.

Es gab keine Regierung, die während der gesamten Zeit vor dem Kosovokrieg über bessere Informationen verfügte als die Bundesregierung. Deutsche Experten saßen im Informationssystem der OSZE-Mission und der Nato an entscheidenden Stellen. Ihre Dokumente, die ich gelesen habe, sind detailgenau, qualifiziert und klar.

Einige Beispiele?

Unmittelbar vor dem Krieg am 17. und 18. März 1999 fassen die internen Lageberichte der OSZE die Lage so zusammen: „Die Lage in der gesamten Provinz ist angespannt, aber ruhig.“

Das deckt den Bereich der OSZE ab.

Die OSZE war zu dieser Zeit immerhin mit 1.400 internationalen Experten im gesamten Kosovo präsent. In einer Darstellung des Auswärtigen Amtes zur humanitären Lage vom 19. März heißt es: „Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen.“ Gleichermaßen! Diese Bewertung ging über alle Ebenen des Auswärtigen Amtes bis zum Minister. Das war fünf Tage vor Kriegsbeginn das Bild, das sich den Experten bot.

Eine einzelne Information.

In einer Tagesmeldung des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr vom 22. März heißt es: „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.“ Es heißt „weiterhin“. Das heißt, auch vorher waren keine ethnischen Säuberungen zu erkennen.

Waren die Berichte des militärischen Nachrichtenwesens wirklich objektiv oder hat es politische Vorgaben gegeben?

Eine Verharmlosung der humanitären Lage im Kosovo kurz vor Beginn der Luftangriffe lag ja überhaupt nicht im Interesse der Bundesregierung. Für die Legitimierung des Krieges war der Politik eher an einer Dramatisierung der Situation gelegen. Die Experten des deutschen militärischen Nachrichtenwesens hatten eine Fülle von Einzelinformationen. Sie waren kompetent genug, diese auszuwerten und zu einem möglichst objektiven Bild zusammenzufassen.

Wie erklären Sie sich dann aber die Unterschiede in der Darstellung der Lage in den Medien und von Seiten der Nachrichtendienstler?

Meines Erachtens liegt einer der Gründe in den unterschiedlichen Perspektiven. Die Darstellung der Nachrichtendienste und auch der OSZE zeichnen ein Gesamtbild über das ganze Kosovo. Die Medien dagegen berichten vor allem punktuell. Von den Orten, wo gerade Kämpfe stattfanden. Im Übrigen warnten die deutsche Botschaft in Belgrad und die Nachrichtenexperten wiederholt in ihren Berichten vor den dramatisierenden und einseitigen Berichten der Medien.

Haben Sie in irgendeinem Dokument Hinweise auf Völkermord vor dem Beginn des Krieges am 24. März gefunden?

Nein. Ich sehe in keinem Papier der Nachrichtenexperten einen Hinweis auf Völkermord. Auch nicht auf massive, großflächige Vertreibungen der kosovo-albanischen Bevölkerung. Was geschildert wird, ist ein grausamer Bürgerkrieg, in dem die Zivilbevölkerung beider Seiten schlimme Leiden ertragen muss. Systematische, massive Vertreibungen der Kosovo-Albaner setzten ein, als die Nato-Luftangriffe begannen.

Aber genau in dieser Zeit wird der Öffentlichkeit das Grauen vor Augen geführt, das im Kosovo tobt. Bundeskanzler Schröder spricht am 23. März im Zusammenhang mit Spekulationen, dass „Luftangriffe der Nato Serbien zu einem schärferen Vorgehen veranlassen“ könnte, davon, dass die Brutalität des serbischen Militärs kaum noch zu überbieten sei.

Das ist ein ganz grundsätzliches Problem, dem wir ja auch aktuell wieder in der Begründung des Irakkrieges begegnet sind: Die Diskrepanz zwischen dem, was auf der Expertenebene festgestellt wird und dem, was Regierungschefs, Minister und Abgeordnete in der Öffentlichkeit sagen, um Kriege zu begründen und zu legitimieren. Im Falle des Kosovokrieges war diese Diskrepanz so groß, dass es ein politischer Skandal ist. Es bedürfte wirklich einer Untersuchung, wo Informationen zu welchen Zwecken verfälscht wurden.

In den USA und in Großbritannien untersuchen Parlamentsausschüsse, ob die Regierungen im Vorfeld des Irakkrieges sie bewusst falsch informiert haben. Wäre das auch ein Weg für Deutschland, den Kosovokrieg aufzuarbeiten?

Ja, natürlich. Denn hier hat ein großer Teil des deutschen Parlaments als dritte Gewalt zur Kontrolle der Regierung versagt. Doch da mit Ausnahme der PDS die große Mehrheit der Abgeordneten aller Parteien der Regierung folgten, wird es keine objektive, kritische Aufarbeitung geben.

Und wie stand es um die vierte Gewalt, die Medien?

Auch diese so genannte vierte Gewalt hat versagt. Nehmen Sie nur die Berichterstattung über das so genannte Massaker von Račak im Januar 1999. Eine Gruppe von neutralen finnischen Gerichtsmedizinern hat festgestellt, dass beispielsweise keine Schändungen der 40 vorgefundenen kosovo-albanischen Leichen erfolgt waren. Es gab auch keine Hinrichtungen durch Nahschüsse. Aber genau diese Schandtaten wurden von namhaften, als seriös geltenden deutschen Zeitungen behauptet und ganz detailliert beschrieben.

Mit welcher Folge?

Es hat den Serben das Bild von Ungeheuern gegeben und damit auch Weichen für den Krieg gestellt. Der Tod der Kosovo-Albaner und das Leid der Angehörigen wurden als emotionales Schlüsselereignis für die Legitimierung des Krieges gegen Jugoslawien missbraucht. Übrigens berichtete das militärische Nachrichtenwesen zu Račak unter der Überschrift „Massaker und Manipulation“.

Welche Elemente, die Sie bei der Vorbereitung des Kosovokrieges sehen, haben sich dann im Irakkrieg wiedergefunden?

Manipulation von Informationen, um die öffentliche Gefolgschaft für einen Krieg zu erwirken. Medien werden zu Weichenstellern für einen Krieg. Internationale Organisationen und Führungspersönlichkeiten in diesen Organisationen werden für einen Krieg instrumentalisiert. Die Dominanz der USA bei der Eskalation zum Krieg.

War der Kosovokrieg die Generalprobe für das, was dann in diesem Jahr im Irak stattfand?

Um in Ihrem Bild zu bleiben: Im Kriegstheater Kosovo waren die USA der Produzent und der Regisseur. Sie hatten einige Hauptdarsteller auf der politisch-militärischen Bühne. Die Deutschen besetzten auch einige wichtige Rollen, vielleicht auch den des Regieassistenten. Sie haben ihre Rolle glänzend gespielt – noch besser als von den USA erwartet. Es wurde uneingeschränkte Solidarität geübt, nicht nur versprochen. Nachdem sich die Deutschen bei der Generalprobe derart vorbildlich präsentiert hatten, war es für die Amerikaner besonders schmerzlich, dass sie dann bei der Premiere im Irak ausstiegen. Weniger bildlich: Der Kosovokrieg war ein Präzedenzfall. Er war nicht durch das Völkerrecht gedeckt. Es war ein Präventivkrieg und er sollte einen Regimewechsel herbeiführen. Alle diese Elemente finden wir im Irakkrieg wieder. Das verleiht dem Krieg gegen Jugoslawien seine andauernde Aktualität und seine nachhaltige politische Bedeutung.