Endlich auf Kreuzberger Boden

Kreuzberg ist um ein paar Quadratmeter und eine Attraktion reicher: Der Garten der Familie Kalin wechselt von Mitte in den alten Westbezirk. Das Fleckchen Erde haben die Kalins in den 80ern besetzt

VON WALTRAUD SCHWAB

Hinter der Thomaskirche am Mariannenplatz gibt es einen Hauch Geçekondu. Die türkische Bezeichnung für Slum bedeutet wörtlich „über Nacht gebaut“. Seit gestern gehört das eigenwillige Anwesen, das sich dort am Bethaniendamm mit Garten und Hütte auf öffentlichem Straßenland drängt, nach einer Gebietsbereinigung mit Mitte ganz amtlich zu Kreuzberg. Cornelia Reinauer, die Bezirksbürgermeisterin, bestätigt es dem Hausherrn, Osman Kalin, mit Handschlag. Der freut sich, als habe sie ihm die Einbürgerung überreicht. Bald wird der bärtige Mann, dem der Schalk in den Augen sitzt, 80 Jahre alt. Wie lange er schon in Deutschland lebt, das kann er nur mit einer Handbewegung in die Vergangenheit andeuten. Ein Schiff auf dem Mittelmeer, Mannheim, Spandau und irgendwann Kreuzberg, das waren Stationen in seinem Leben.

In Geçekondus an den Rändern türkischer Städte sammeln sich die Häuser von Landflüchtlingen. Über Nacht gebaut werden sie. Wenn morgens darin das Teewasser koche, seien sie nach altem osmanischem Recht legal. Die türkischen Behörden sehen das zwar anders, aber Volkswahrheiten halten sich hartnäckig. Auch Osman Kalin muss das verinnerlicht haben. Denn nachdem er lange auf das verlotterte Stückchen Grün vor seinem Fenster, damals noch von der Mauer begrenzt, geschaut hatte, grub er es vor zwanzig Jahren einfach um, baute einen Zaun und pflanzte Kohl an.

Damals, Anfang der 80er-Jahre, gehörte der Flecken Erde, obwohl auf Westberliner Seite der Mauer, zur DDR. Die verscheuchte den anatolischen Bauern nicht, die Westpolizei wiederum hatte keine Handhabe gegen den Mann. So entstand ein Gemüsegarten, der heute zum Stadtbild gehört und in dem von Meerrettich über Pfefferminze, Bohnen, Kartoffeln und Zwiebeln bis zu Spinat und Sauerampfer alles wächst, was die vielköpfige Familie versorgt. Bald stand auch eine kleine Hütte auf dem Gelände, die aus lauter Liebe zur baulichen Erweiterung mittlerweile als Mischung zwischen Hexenhaus und Himmelsoase daherkommt. Alles, was eine Stadt an baufähigem Abfall hergibt, findet sich darin: Leitern, Schrankwände, Wellblech, Stahlgitter, Laufställe fügen sich zu einer Hüttenarchitektur, mit Treppen und niedrigen Zimmerchen, die über enge Gänge zu Terrassen führen. Escher, Gaudí und Hundertwasser – derart mutet das an, nur kleiner. Gekonnt gibt die vorhandene Natur dem Gebäude Halt und Schatten. Ein Essigbaum darf sich durch ein Loch der inzwischen befestigten Betonwand nach außen drängen, Weinreben halten die Mauern zusammen, selbst ein Weihnachtsbaum aus Plastik garantiert Immergrün auf einer Balustrade.

Nach dem Mauerfall geriet das öffentliche Straßenland in die Zuständigkeit Mittes. Der Bezirk ließ die Großstadtoase, die weder Strom noch Wasseranschluss hat, wo sie war. „Goodwill“ der Politiker ist das Stichwort. Auch als Kreuzberger muss Kalin darauf vertrauen. In der Hand hat er nichts, was ihm sein Recht auf die Nutzung der Straßeninsel verbrieft.

Reinauer, die Bezirksbürgermeisterin, hat sich angemeldet, um Kalin als Kreuzberger zu begrüßen. Der allerdings verspätet sich. Er ist noch in der Moschee. Seine Frau Fadik Kalin führt die Türkisch sprechende Bürgermeisterin schon mal durch den bizarren Palast, zeigt Gemüse und Obstbäume. Kirschen, Haselnüsse und Aprikosen gibt es. Die 1938 Geborene entschuldigt sich, sie sehe so gealtert aus, weil sie ihre sieben Kinder in der Türkei allein großziehen musste. Erst zwanzig Jahre nachdem ihr Mann in die Fremde gegangen war, zog sie ihm nach.

Endlich taucht Osman Kalin auf. Jetzt, wo ihm die Behörden geholfen haben, Kreuzberger zu werden, könne man ihn doch auch unterstützen, eine deutsche Zweitfrau zu heiraten, meint er. Das ist zwar eine Übung in anatolischem Humor, aber wie sich herausstellt, bestehen Verständigungsdefizite: Der Mann erntet zuerst vehemente Kreuzberger Proteste.