Die Reichen, die die Lieder der Armen stehlen

„La teta asustada“ („Die Milch des Leids“) von Claudia Llosa ist der erste Film aus Peru, der jemals im Wettbewerb der Berlinale lief

Es gibt Filme, die einem die Sprache verschlagen. Versunken in die Erzählung vergisst man die Zeit, ist völlig ergriffen, bleibt beim Abspann sitzen, geht hinaus aus dem Kino, raucht eine Zigarette, um das Gesicht wieder zurechtzurücken, nimmt die Außenwelt wie durch einen Schleier wahr.

Vor dem Berlinalepalast wartet der nette junge Mann von „Motor FM“ und will wissen, wie’s war. Man sagt, „der Film ist fantastisch, ich kann aber grad nicht sprechen“. Er fragt, „aber erzählen Sie doch bitte eine Szene“, man macht eine Pause: „Okay; am Anfang liegt die Mutter im Sterben. Sie singt ein Lied, das davon handelt, wie sie vergewaltigt worden war. Bei der Vergewaltigung war sie schwanger und wurde gezwungen, den toten Penis ihres armen Mannes zu essen. Die Tochter, die Heldin des Films, ist traumatisiert. Sie hat eine Kartoffel in ihre Vagina gesteckt, um sich zu schützen.“ Der junge Mann sagt: „Oh.“

Die Gewaltgeschichte Perus steht im Hintergrund von „La teta asustada“ der Regisseurin Claudia Llosa. Die 2001 eingesetzte peruanische Wahrheitskommission hat für den Zeitraum von 1980 und 2000 fast 70.000 ermordete Menschen, unzählige Vergewaltigungen, Entführungen und andere Menschenrechtsverletzungen verzeichnet im Kampf zwischen der maoistischen Guerillaorganisation „Leuchtender Pfad“ und der Staatsmacht, vor allem unter dem bizarren Präsidenten Fujimori.

Fausta, die Heldin des Films, lebt in den so ärmlichen wie farbenfrohen Außenbezirken Limas. Sie leidet unter der „Milch des Leids“ (so die Übersetzung des Filmtitels). Von dieser Krankheit – der poetisch-konkreten Umschreibung einer schweren Traumatisierung – sind die Töchter der Frauen betroffen, die in Peru in der Zeit des Terrors misshandelt oder vergewaltigt wurden. Fausta leidet aber auch ganz physisch an der Kartoffel, die in ihrer Vagina Wurzeln bildet. Ihre Verletzung, ihre Angst, ihre Stigmatisierung und ihr langsames Wiedererwachen zum Leben wird behutsam, unglaublich präzise und völlig ergreifend von Magaly Solier gespielt.

„Milk of Sorrow“ ist gleichzeitig traurig und lebensbejahend. Unter dem Tisch mit den festlichen Speisen für eine Hochzeit liegt die Mutter in ihrem Sarg. Es geht um Klassengegensätze; um Reiche, die die Lieder der Armen stehlen, um Leben und Tod und den Tod in den Liedern, um Liebe vielleicht auch.

DETLEF KUHLBRODT

„La teta asustada“ („The Milk of Sorrow“). R: Claudia Llosa. Mit Magaly Solier, Susi Sànchez. Spanien, Peru 2008, 94 Min.; 13. 2.; 16.30 Uhr, Berlinalepalast; 18 Uhr Friedrichstadtpalast; 20 Uhr, Urania; 15. 2., 20.30 Uhr, Friedrichstadtpalast