Chancen gegen den Geldturbo

Fritz Reheis erklärt wunderbar, warum sich das Leben ständig beschleunigt – aber seine Vorschläge zur „Entschleunigung“ sind naiv

Managementseminare und Boulevardzeitungen haben es als Modethema entdeckt: „Zeitinseln“ schaffen, damit wahlweise für Sport, Kinder oder Sex wieder Zeit ist und die Arbeit nicht zum ganzen Leben wird. Auf diesem Niveau bleibt das Buch „Entschleunigung“ von Fritz Reheis zum Glück nicht stehen. Vielmehr will der Autor die politischen und ökonomischen Ursachen des weit verbreiteten Stressgefühls aufspüren und darstellen, wie der Einzelne „eingetaktet“ wird. Und das ist spannend.

Schon in der Schule werden die Kinder auf Schnelligkeit und Stundenrhythmus trainiert. Die Fähigkeit, intensiv wahrzunehmen und anschließend darüber nachzudenken, muss dabei zurückstehen. „Zeitdruck ist regelmäßig dafür verantwortlich, dass aufkeimendes Interesse an bestimmten Themen nicht weiter berücksichtigt wird.“ Abgeschnitten von sich selbst, werden die Schüler immer passiver und desinteressierter. Reheis weiß, wovon er spricht, er ist selbst Lehrer. Später bei der Arbeit sorge eine „Verdichtung“ dafür, dass schnellere Computer und andere Maschinen keine Freiräume für Muße und eigene Gedanken schaffen, sondern diese Freiräume sofort neu belegt werden. Und in der Freizeit entsteht ein ähnliches Phänomen: Durch Mikrowellen und Spülmaschinen gewonnene Zeit füllt sich sofort mit neuen Anforderungen und Bedürfnissen.

Reheis referiert verschiedene Theorien darüber, wodurch sich die menschliche Welt immer stärker beschleunigt hat. Einige Forscher vertreten die These, die Evolution mit ihren immer rascher aufeinander folgenden Neuerungen setze sich zwangsläufig in der menschlichen Entwicklung fort. Andere gehen davon aus, dass die Menschen nach dem Abschied von einer Jenseitsvorstellung im ausgehenden Mittelalter immer stärker unter Stress gerieten: Alles muss in diesem einen Leben passieren – und da es permanent neue Möglichkeiten gibt, soll immer mehr in die eigene Lebenszeit gestopft werden.

Diese Erklärungsmuster hält Reheis allerdings für nicht hinreichend, sondern er versucht eine ökonomische Begründung. Er konstatiert eine unterschiedliche Geschwindigkeit und Flexibilität dessen, was auf den Märkten gehandelt wird. Natürliche Ressourcen wachsen extrem langsam oder gar nicht nach, sind also ihrem Wesen nach sehr unflexibel. Die menschliche Arbeitskraft ist schon deutlich anpassungsfähiger: Pendler oder Migranten können auch fernab der Heimat schuften und Menschen Tätigkeiten innerhalb einer gewissen Frist erlernen. Der Markt mit Maschinen, Strumpfhosen und andere Waren ist im Vergleich dazu allerdings wieder wesentlich schneller – und doch viel langsamer als die Finanzmärkte, die innerhalb von Sekunden Milliarden Dollar oder Euro um den Globus schicken. Sie geben heute die Bedingungen vor für die langsameren Bereiche, weil das Geld dahin fließt, wo die höchsten Gewinne zu erwarten sind. Hierin identifiziert Reheis den stärksten Motor der Beschleunigung.

Schwach ist das Buch im dritten Teil, das mit „Therapie und Prävention“ überschrieben ist. Es verrät einen rückwärts gewandten und naiven Blick des Autors: „Eigenzeiten können nur durch ein staatliches Eingreifen geschützt werden.“ Auch eine staatliche Verpflichtung der Autohersteller, endlich Drei-, Zwei- oder Einliterautos auf den Markt zu bringen, kommt dem Autor in den Sinn. Und ganz so, als ob man einen Boris Becker dazu verdonnern könnte, in Deutschland zu bleiben, fordert Reheis eine „Umverteilung von Reichtum, die der Staat im Interesse der großen Mehrheit seiner Bürger gegen eine kleine Minderheit seiner Bürger durchsetzen müsste“.

Nach diesen vielen an den Staat gerichteten „Müsste und sollte“- Forderungen stellt Reheis noch ein paar Initiativen wie „Slow Food“ und Attac vor, die nach seiner Vorstellung zu einer Antibeschleunigungsbewegung zusammenwachsen und einer klugen, nicht konsumorientierten Lust Vorschub leisten sollten. ANNETTE JENSEN

Fritz Reheis: „Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus“. Riemann Verlag, München 2003, 320 Seiten, 20 Euro