Keine Pflicht zum Leben

Patientenverfügungen müssen gestärkt werden. Wird der Behandlungsabbruch nicht klar geregelt, dürfte der Ruf nach Legalisierung aktiver Sterbehilfe bald lauter werden

Richter werden nicht zu „Herren über Leben und Tod“ gemacht. Die Entscheidung hat der Patient gefällt

Niemand denkt gern an den eigenen Tod. Deshalb haben nur rund acht Prozent der Deutschen in einer Patientenverfügung festgelegt, was mit ihnen passieren soll, wenn sie ins Koma fallen oder aus anderen Gründen ihren Willen nicht mehr artikulieren können. Justizministerin Brigitte Zypries will dies ändern. Die Bürger sollen von ihrem Recht auf Selbstbestimmung stärker Gebrauch machen. An diesem Donnerstag wird die von ihr eingesetzte Kommission „Patientenautonomie am Lebensende“ das Ergebnis einjähriger Beratungen vorstellen. Eine Chance für manch notwendige Klarstellung.

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Der Arzt darf einen Patienten nicht durch eigenes Handeln, etwa eine Giftspritze, töten – auch wenn dieser es ausdrücklich wünscht. Wegen „Tötung auf Verlangen“ drohen dem Mediziner sonst bis zu fünf Jahre Haft. Nach dem Willen fast aller politischen Akteure soll dieses Verbot aktiver Sterbehilfe bestehen bleiben. Zulässig sind heute aber schon die indirekte und die passive Sterbehilfe. Unter indirekter Sterbehilfe versteht man die Schmerzlinderung durch starke Medikamente, die zugleich eine (unbeabsichtigte) Beschleunigung des Sterbens bewirken können.

Bei der passiven Sterbehilfe geht es um den Abbruch der Behandlung eines unheilbar Kranken. Wenn der Patient dies verlangt, ist das Abschalten von Apparaten ebenfalls straffrei. Der Sterbenskranke kann, wie jeder Patient, verhindern, dass er gegen seinen Willen behandelt wird. Ärztliche Maßnahmen, die die Selbstbestimmung eines Kranken missachten, sind ihrerseits sogar als Körperverletzung strafbar. Dies gilt auch für lebenserhaltende Therapien. Der Kranke hat ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht. Dies wird wegen des Verbots der aktiven Sterbehilfe in der öffentlichen Diskussion leider oft vergessen.

Deshalb sollte die Zulässigkeit der indirekten und der passiven Sterbehilfe im Strafgesetzbuch klargestellt werden. So könnte die Rechtssicherheit für Ärzte und Patienten erhöht werden, auch wenn sich dadurch juristisch nichts ändern würde.

Patientenverfügungen fällt dann eine zentrale Rolle zu, wenn ein sterbenskranker Mensch keinen Willen mehr äußern kann. Mittlerweile kursieren in Deutschland dazu mehr als 200 unterschiedliche Formulare und Anleitungen. Mit deren Hilfe kann jeder bereits im gesunden Zustand festlegen, ob und in welchen Fällen er künstliche Ernährung und Beatmung oder andere apparative Maßnahmen wünscht oder ablehnt.

Die meisten Menschen legen mit diesen Verfügungen den Verzicht auf Intensivmedizin fest. Sie sehen in der Lebensverlängerung um jeden Preis kein würdiges Sterben, sondern eine unnötige Belastung für sich und andere. Kritiker wie die Ärztin Erika Feyerabend wittern jedoch hier ein neues Instrument zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen: Wer zu teuer werden könnte, solle schnell und selbstbestimmt ableben. Dieser Vorwurf ist aber in seiner Fixierung aufs Finanzielle selbst menschenfeindlich. Die humane Würde ist eben nicht am besten gewahrt, wenn am meisten Geld ausgegeben wird. Vielmehr ist Selbstbestimmung ein Wert an sich, auch dann, wenn sie zufällig oder absichtlich zu Einsparungen führt. Und dass in den Verfügungen der Verzicht auf Apparatemedizin überwiegt, hat einen einfachen Grund. Deren Nutzung ist eben nach wie vor der Regelfall.

Oft wird der Wunsch für das Lebensende recht allgemein und klischeehaft geäußert. Wer nur schreibt: „Ich will nicht an Schläuchen hängen“, habe sich mit der Thematik nicht richtig auseinander gesetzt, geben Kritiker wie Eugen Brysch von der Deutschen Hospizstiftung zu bedenken. Es wäre aber falsch, Patientenverfügungen nur dann als verbindlich zu akzeptieren, wenn sich ihr Urheber zuvor ausführlich beraten ließ. Im Bemühen um Perfektion würden vor allem die Hemmschwellen erhöht. Nein, es sollte vielmehr möglichst einfach sein, eine Patientenverfügung, die ohnehin jederzeit geändert oder widerrufen werden kann, zu verfassen. Denn sonst müssten am Ende weiterhin Angehörige und Ärzte über den mutmaßlichen Willen eines komatösen oder dementen Kranken rätseln.

Es gibt aber auch grundsätzliche Zweifel am Sinn von Patientenverfügungen. Niemand könne sich im Voraus kompetent zu jeder potenziellen medizinischen Notlage äußern, so die Kritiker. Deshalb sei es besser, eine nahe stehende Person zu bevollmächtigen, im Ernstfall die nötigen Entscheidungen zu treffen – und zwar nach spezifischer ärztlicher Beratung. So könnte auch das Problem, das sich aus dem medizinischen Fortschritt ergibt, gelöst werden. Wer weiß heute schon, ob es für Krankheiten, die jetzt noch als unheilbar gelten, bald nicht doch wirksame Therapien gibt? So gesehen ist die Vollmachtlösung sicher sinnvoll. Andererseits bestehen auch gute Gründe, eine Entscheidung wie die über Leben und Tod nicht zu delegieren – zum Beispiel weil Angehörige und Freunde nicht mit derart heiklen Entscheidungen belastet werden sollen.

Nach langer Unsicherheit hat der Bundesgerichtshof (BGH) erst vor einem Jahr entschieden: Grundsätzlich sind Patientenverfügungen für Ärzte verbindlich. Allerdings soll über den Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie das Vormundschaftsgericht befinden, wenn die Ärzte eine Weiterbehandlung anbieten.

Was als Schiedsmechanismus für Streitfälle gedacht war, könnte schnell zum Regelfall werden. Denn die Bundesärztekammer empfiehlt den Medizinern, stets eine richterliche Entscheidung einzuholen. Angesichts der Tragweite dieser Frage ist das aber nicht unangemessen. Richter werden damit auch nicht zu „Herren über Leben und Tod“ gemacht. Die eigentliche Entscheidung hat schließlich der Patient gefällt. Die Juristen müssten nur noch überprüfen, ob tatsächlich eine Patientenverfügung vorliegt und ob die dort aufgeführten Bedingungen konkret erfüllt sind.

Kritiker wittern in den Verfügungen ein Instrument zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen

Große Irritation gab es um eine andere Einschränkung des BGH. Patientenverfügungen sollten nur verbindlich sein, wenn die Krankheit einen „irreversibel tödlichen Verlauf“ genommen hat, so die Richter. Dadurch war fraglich geworden, ob der Patientenwille auch im Falle eines Wachkomas verbindlich wäre, denn Wachkomapatienten gelten nicht als Sterbende. Viele Menschen wollen jedoch gerade dieses oft jahrelange, vermutlich völlig teilnahmslose Dahinvegetieren für sich verhindern. Inzwischen hat immerhin die Vorsitzende BGH-Richterin Meo-Micaela Hahne klargestellt, dass ein Wachkoma doch als „irreversibel tödlich“ anzusehen ist, wenn die Rückkehr des Bewusstseins nicht zu erwarten ist. Doch auch hier wäre eine gesetzliche Regelung hilfreich und nötig.

Mit aktiver Sterbehilfe hat all dies nichts zu tun. Oder doch so viel: Wenn der Wille der Patienten künftig nicht besser und verlässlicher berücksichtigt wird, dürfte der Ruf nach gänzlicher Legalisierung der Sterbehilfe bald unüberhörbar werden.

CHRISTIAN RATH