Vom Unwort zur Normalität

Vor kurzem war sie noch undenkbar, jetzt liegt die Verfassung für Europa vor. An nötige Reformen hat sich der Konvent nicht gewagt, trotzdem verdient das Ergebnis Achtung

Die Frage „Wer macht was in Europa?“ wird künftig leichter zu beantworten sein

Die Reaktionen auf die Arbeit des Europäischen Konvents stiften Verwirrung: Die einen wollen nachbessern, die anderen warnen davor, das Paket wieder aufzuschnüren. Doch gerecht beurteilt werden kann das komplexe Werk nur, wenn die Bewertungsmaßstäbe offen und langfristige Entwicklungslinien freigelegt werden.

Demokratisierung, Steigerung der Handlungsfähigkeit, Vereinfachung der Verträge stellten die zentralen Zielvorgaben dar. Bei 460 Artikeln kann kaum von einer Vereinfachung gesprochen werden. Auch ist das vielseitige Dokument kein Meisterwerk an Lesbarkeit. Aber es ist übersichtlicher geworden, denn das Dickicht undurchschaubarer Verfahren wurde etwas gelichtet. Noch immer enthält das verfassungspolitische Mammutunternehmen unnötige Dopplungen und Überschneidungen. Künftige Juristengenerationen werden daran ihre Interpretationskunst beweisen können.

In einigen Politikbereichen – der Außen- und Sicherheits- sowie der Justiz- und Wirtschaftspolitik – wurden Verfahrenssonderregelungen geschaffen, die vielleicht den Schwierigkeiten, in diesen Politikfeldern eine gemeinsame Politik zu entwickeln, gerecht werden, jedoch nicht zur Transparenz beitragen. Aber das Erreichte stellt gegenüber dem Status quo einen Fortschritt dar.

Der Konvent hat das Kunststück geschafft, die Handlungsfähigkeit der EU zu steigern, indem er alle Institutionen stärkte und eben nicht eine zu Lasten der anderen. Er hat das heikle Gleichgewicht zwischen Parlament, Kommission, Rat und Europäischem Rat nicht zerstört, sondern eine neue Balance hergestellt: Der nun für zweieinhalb Jahre zu wählende Ratspräsident erhält nicht die verfassungsrechtlichen, institutionellen und organisatorischen Instrumente, um die EU-Politik zu beherrschen. Es bleibt eine Fortführung der bisherigen Ratspräsidentschaft erhalten, deren Arbeitsbedingungen durch die Abschaffung der bisherigen Rotation und die Hauptamtlichkeit der Funktion verbessert werden.

Auch der „europäische Außenminister“ wird die Handlungsfähigkeit und Sichtbarkeit der EU im weltpolitischen Geschehen steigern. Seine Position – Wahl durch den Europäischen Rat und Einbindung in die Kommission – hat gewiss etwas Zwitterhaftes. Aber diese so genannte Doppelhut-Lösung zieht die Konsequenz aus dem unbefriedigenden aktuellen Zustand: Die in der Aufgabenteilung zwischen dem Außenkommissar Patten und dem außenpolitischen Repräsentanten des Rates, Solana, angelegte Spannung wird nun in einer Personalunion aufgelöst. Dieses Heranrücken der Außenpolitik an die Kommission – wenn auch keine Kompetenzübertragung an diese – stärkt eine von vielen Integrationisten geforderte Entwicklung, die in der Kommission langfristig den Kern einer europäischen Regierung erblicken. Was sich bei der Regierungskonferenz in Amsterdam noch als nicht durchsetzbar erwies, wurde nun realisiert.

Gemeinsame Verfahren und Institutionen garantieren zwar keine gemeinsame Politik, aber sie können sie erleichtern. Ein eigenes Initiativrecht verschafft dem zukünftigen „europäischen Außenminister“ politisches Gewicht und die Möglichkeit, so etwas wie eine gemeinsame Politik federführend zu generieren.

Zur Handlungsfähigkeit tragen weitere Regelungen bei: Die Mehrheitsentscheidungen im Rat wurden ausgeweitet – wenn auch manche Wünsche unerfüllt blieben; seine legislativen Entscheidungen erfolgen öffentlich; die Regelungen zur Bestimmung der qualifizierten Mehrheit wurden vereinfacht, die Kommission wird verkleinert – beides soll aber erst 2009 gültig werden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass viele Kompromisse zwischen integrationsfreundlichen und integrationsskeptischen Kräften nicht die Substanz, sondern den Zeitablauf betreffen. Dies entspricht dem Charakter der europäischen Einigung als permanentem Prozess, in dem die Integrationsskeptiker verzögern, was sie nicht verhindern können.

Demokratischer wird die EU auch: Das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments wird als Regel festgeschrieben, die natürlich auch Ausnahmen zulässt. Das EP wird zur zweiten Gesetzgebungskammer und erhält volle Haushaltsbefugnisse auf der Ausgabenseite. Es wählt den Kommissionspräsidenten, was zu einer Politisierung der Europawahlen führen wird. Erstmals schreibt ein eigener Artikel über die partizipative Demokratie den „transparenten und regelmäßigen Dialog“ mit Verbänden und der Zivilgesellschaft vor. Und als „Schmankerl“ wurde in letzter Minute sogar ein Bürgerbegehren aufgenommen, mit dem die Kommission zur „Unterbreitung von Vorschlägen zu Themen“ aufgefordert werden kann. Das Scheitern der Forderung nach einem Referendum bedeutet allerdings eine herbe Enttäuschung.

Der Außenminister Europas wird die Handlungsfähigkeit der EU in der Weltpolitik steigern

Jenseits institutioneller Fragen konnte – zum Teil gegen heftige Revisionsversuche – der materielle Besitzstand gesichert werden. Die nachhaltige Entwicklung, hohe Umweltschutzstandards, Antidiskriminierung und Generationengerechtigkeit sind in den Zielbestimmungen zu finden. Die Umweltschützer begrüßen nicht nur die Wiederverankerung des Integrationsprinzips, sondern auch die Stärkung des Kohärenzgebots. Mit Bestimmungen zur Gleichstellung von Frauen und Männern konnte die europäische Vorreiterrolle in der Geschlechterpolitik gesichert werden.

Wer eine Weiterentwicklung des Integrationsprozesses wünscht, wird grundlegende Fortschritte begrüßen: Vor Jahren war der Begriff „Europäische Verfassung“ noch ein Unwort, das zu erwähnen die Rücksichtnahme auf integrationsskeptische Kräfte verbat. Er taucht nun an vielen Stellen im Text auf. Die Integration der Grundrechtecharta in die Verfassung, die auf der Regierungskonferenz in Nizza noch scheiterte, ist nun vollzogen. Damit wird sie rechtsverbindlich – wenn auch der Wunsch nach Verankerung einer individuellen Grundrechtsbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof nicht in Erfüllung ging. Die EU wird Rechtspersönlichkeit erhalten – diesen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem staatsähnlichen Gebilde sui generis scheuten unter anderem bislang die Briten. Endlich kann die EU etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Mit einer klareren Kompetenzordnung wird es künftig leichter, die Frage „Wer macht was in Europa?“ zu beantworten – auch wenn hier in einzelnen Politikfeldern noch endgültige Entscheidungen ausstehen.

An die gewaltige Aufgabe der notwendigen Reform vieler Politikfelder wie der Agrar-, Verkehrs-, Energie- und Wirtschaftspolitik im dritten Teil der Verfassung hat sich der Konvent nicht gewagt. Dazu fehlte letztendlich die Zeit. Auch dieser erste Verfassungsentwurf ist eben nur ein weiterer Schritt im Integrationsprozess, gemessen am Status quo allerdings ein großer und zudem einer in die richtige Richtung. CHRISTIAN STERZING