Rinderwahnsinn?

Zu Besuch bei einer BSE-Sachkundigen

von GABRIELE GOETTLE

Ich gebe doch zu, wir haben alle nicht aufgepasst. G. Schröder, Bundeskanzler (2001) Margrit Herbst, Dr. med. vet., ehem. amtliche Fleischhygiene-Tierärztin, Schlachthof Bad-Bramstedt. 1947 Einschulung in d. dänischen Volksschule in Sörup. 1954 Staatl. Oberschule f. Mädchen i. Flensburg, Wechsel zum Gymnasium f. Mädchen i. Osnabrück, Klavier u. Gesangsunterricht a. Städt. Konservatorium. Reitunterricht u. Turnierteilnahme. 1961 Abitur. 1961–1966 Studium d. Veterinärmedizin a. d. Tierärztlichen Hochschule zu Hannover, zusätzl. div. Tätigkeiten wie Beritt v. Reit- und Rennpferden, Praxisvertretungen i. Großtier- und Zoo-Praxen. 1967 Promotion („Sedation des Schweines mit einem Methansulfonat“) 1963–1968 Hochschultätigkeiten a. d. Tierärztlichen Hochschule Hannover. 1970–1978 Tätigkeit i. eigener Großtierpraxis i. Gartow (Niedersachsen). Zusätzliche Arbeitsschwerpunkte: als Turnierärztin; Betreuerin d. Gartower Zollreiterstaffel; Berittene Tierärztin d. Niedersachsenmeute i. Dorfmark; Vertragsärztin beim Bundeshybridzüchtungsprogramm f. Schweine. 1978 Übersiedlung nach Schleswig-Holstein, 1978–1994 amtlich angestellte Fleischhygienetierärztin d. Kreises Segeberg im Schlachthof Bad Bramstedt, einem Betrieb d. „Norddeutschen Fleischzentrale“. 1986 nach d. Reaktorunglück i. Tschernobyl Informationsbeiträge u. kritische Stellungnahmen. Zwischen 1990 u. 1994 insgesamt 24 vorläufige Beschlagnahmungen u. Meldungen BSE-verdächtiger Rinder. Eine dem Verdacht entsprechende gründliche Untersuchung und Aussonderung der Tiere wurde von der vorgesetzten Behörde nicht durchgeführt, sondern lediglich die üblichen Untersuchungsverfahren angewandt. Höchstwahrscheinlich wurden alle Tiere zum Verzehr freigegeben. 1991 wurde BSE zur anzeigepflichtigen Seuche erklärt. Ab 1991 zeitweise unfreiwillige Versetzung an d. Schlachtbänder, wo neben d. tierärztlichen Arbeit auch Schlachterarbeiten abverlangt wurden (wie das Abschneiden v. Nieren u. Rinderschwänzen). Nach zahlreichen u. ergebnislosen Versuchen, d. vorgesetzten Stellen von d. immensen Gefährlichkeit der BSE-Krankheit zu überzeugen, Entscheidung z. Schritt i. d. Öffentlichkeit; Bericht ü. d. Praktiken d. Schlachthofs Bad Bramstedt, BSE-verdächtige Rinder normal zu schlachten (Sendung v. August 1994). Im Oktober 1994 erfolgte d. Unterlassungsklage d. Schlachthofbetreibers, d. Norddeutschen Fleischzentrale. Dezember 1994/95 fristlose Kündigung d. d. Kreis Segeberg wg. Bruchs d. Verschwiegenheitspflicht resp. d. Vertrauensverhältnisses. Es folgte jahrelange Arbeitslosigkeit, Kampf um Rehabilitation, schließlich Frühverrentung. 1991–2001 zahlreiche Vorträge u. wissenschaftliche Fachbeiträge ü. BSE u. Creuzfeldt-Jakob-Erkrankungen. Preise u. Auszeichnungen: 2001 Weltethikpreis f. Zivilcourage. 2001 Whitleblower-Preis, Berlin. 2002 H. G. Creutzfeldt-Förderpreis f. Zivilcourage. 2003 Frau des Jahres i. Schleswig-Holstein. Frau Dr. Herbst wurde am 5. Juli 1940 i. Flensburg als Margrit Hansen geboren, sie ist geschieden und hat 2 Kinder. Ihr Vater war Bauingenieur, die Mutter Hausfrau.

Die Behandlung von Tierkrankheiten und die Praktiken des Schlachtens und der Hygiene wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend empirisch betrieben von Stallmeistern, Hirten, Schmieden, Viehkastrierern und den Bauern selbst. Für die toten Tiere war lange Zeit der Henker zuständig. Fleischbeschau gab es schon im 14. Jahrhundert, aber erst im 16. Jahrhundert geboten neue Fleischerordnungen in den Städten das Schlachten der Tiere ausschließlich in den öffentlichen Schlachthäusern. Ohne Untersuchung des lebenden und toten Tieres durfte deren Fleisch nicht in der Stadt verkauft werden. Von Trichinen und Würmern befallenes Fleisch wurde an die Armenhäuser und Seuchenspitale abgegeben.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – der Tierarzt war bereits ein akademischer Beruf – verlangte das Reichsrindfleischbeschaugesetz in § 1 eine amtliche Untersuchung für „Rindvieh, Schweine, Schafe, Ziegen, Pferde und Hunde“ vor und nach der Schlachtung, und die Schlachthöfe wurden von den Innenstädten an den Rand der Städte verlegt. Die Zentralisierung der Schlachthöfe begann Mitte des 19. Jahrhunderts. Der erste und vorbildlichste, 1867 (genau zum Datum der Weltausstellung in Paris eröffnet), wurde vom strategischen Stadtbaumeister Haussmann konzipiert und war – im Gegensatz zu seiner Modernisierung von Paris – im Moment der Fertigstellung bereits veraltet. Während in den Hallen des neuen Schlachthofes „La Vilette“ für jeden Bullen eine eigene Box vorhanden war und mit der altgewohnten handwerklichen Ruhe und Technik weitergeschlachtet wurde, liefen im Chicagoer Großschlachthof bereits Bänder, und den Rindern wurde das Fell mechanisch ab- und über die Ohren gezogen.

40 Jahre später beschrieb Upton Sinclair diesen Schlachthof als den Ort, an dem die „Fleischwerdung des Geistes des Kapitalismus“ sichtbar wird („The Jungle“, 1906). Dieser Geist hat dann in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts – als es immer üblicher wurde, durch listige Einsparungsmaßnahmen Gewinne zu erwirtschaften – die Rinderseuche BSE hervorgebracht und für ihre Weiterverbreitung gesorgt. 1980 wurde in England die Erhitzungstemperatur bei der Tiermehlherstellung stark reduziert. Resultat: Die sichere Abtötung der Scrapie-Erreger in den mitverarbeiteten Schafskadavern war nicht mehr gegeben. Durch den Brauch, Pflanzenfresser zu Zwangskannibalen zu machen, indem man ihnen Kadavermehl als Kraftfutter zufütterte, konnte der Erreger die Artenschranke überwinden.

1982 fallen ihm in GB die ersten Rinder zum Opfer. Nach vielen Jahren der Geheimhaltung, der unzureichenden Maßnahmen, des Rindfleisch- und Tiermehlexports, werden 1986 die EG-Mitgliedstaaten unterrichtet, wird ab 1990 BSE in der EU meldepflichtig, wird 1996 ein umfassendes Exportverbot für britisches Rindfleisch von der EU erlassen, nachdem England bekannt gab, dass die Übertragbarkeit der Bovinen spongiformen Enzephalopathie, dem sog. Rinderwahnsinn, auf den Menschen nicht auszuschließen sei. England hat mehr als 40.000 BSE-Fälle registriert und zehn Todesfälle aufgrund der neuen Form der ebenfalls tödlichen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Bis November 2000 waren in GB insgesamt 80 und in Frankreich 5 Menschen daran gestorben. Eine EU-weite Kennzeichnungspflicht für Rindfleisch wurde eingeführt und das Verwendungsverbot von Risikomaterialen: Schädel inkl. Gehirn, Augen, Tonsillen, Wirbelsäule, Rückenmark, Darm und Darmgekröse (bei Rindern über zwölf Monate). Die Schnelltests bei verdächtigen Tieren werden eingeführt (ab Januar 2001 Pflicht). Am 24. November 2000 wird in Deutschland der erste Fall von BSE bei einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Rind diagnostiziert, in Schleswig Holstein, ganz in der Nähe des Schlachthofs Bad Bramstedt, aus dem die Fleischhygiene-Tierärztin Frau Dr. Herbst fünf Jahre zuvor entlassen wurde, weil sie mit dem BSE-Skandal an die Öffentlichkeit getreten war. Im Dezember erlässt Deutschland ein Verfütterungsverbot für Tiermehl (EU-weit ab 2001). Man schätzt, dass seit Bekanntwerden von BSE zirka 800.000 infizierte Rinder in die menschliche Nahrungskette gelangt sind. Die Inkubationszeit der neuen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beträgt zwischen einigen Monaten bis zu 30 Jahren.

An einem schönen Frühlingsmorgen fahren wir auf dem Weg zu Frau Dr. Herbst nach Bad Bramstedt, um einen Blick auf ihre frühere Arbeitsstätte zu werfen. In dieser norddeutschen Kleinstadt haben sich schon vor 600 Jahren Rinderschicksale vollzogen. Mitten durch Bad Bramstedt führte der sog. Ochsenweg, auf dem im 15. Jahrhundert jedes Frühjahr tausende von Ochsenherden von Jütland bis hinunter an den Rhein getrieben wurden zum Verkauf und zur Schlachtung. Damals gab es noch keine öffentlichen Schlachthäuser, heute gibt es bei uns so gut wie keine mehr. Das Fleischgeschäft, vom Viehhandel bis hin zur Boulettenproduktion, befindet sich in den Händen großer Fleischkonzerne. Heute wird das Vieh in Transportern hier aufs Betriebsgelände der Norddeutschen Fleischzentrale gefahren, direkt an die Endladerampe, über die es unmittelbar im Innern des Hauses verschwindet. Nichts an diesem Gebäudekomplex deutet auf einen Schlachthof hin, hier könnte ebenso eine Zigarettenfabrik oder ein Getränkeauslieferungslager arbeiten statt eines Schlacht- und Zerlegebetriebes, in dem 600 Rinder täglich geschlachtet, also getötet werden – denn das Töten ist auch im 21. Jahrhundert immer noch Handarbeit. Zu erkennen ist auch nicht, dass der große, runde Behälter, der neben dem flachen Gebäude aufragt, ein Fassungsvermögen für 40 Millionen Liter Blut hat.

Wir fahren weiter nach Brockstedt, vorbei an aufgeräumten Agrarlandschaften. Kein Tier ist zu sehen. Hier in der Gegend hält man Milchvieh. Plötzlich taucht am Straßenrand in einer Ortschaft vor Brockstedt ein mysteriöses Plakat auf. Neben der Aufschrift: „Sicher ist sicher! Deutsches Rindfleisch!“, ist links das Bild eines ausgerollten Präservativs zu sehen und rechts das eines Tellers mit Fleisch.

Kurz darauf sind wir in Brockstedt, einem typischen norddeutschen Dorf mit alten und neuen Backsteinhäusern, intensiv gepflegten Vorgärten, mit Post, Metzgerei, Kirche, Friedhof, Kindergarten, Altenheim und Eigenheimsiedlung. Wer hier Außenseiter ist, findet wenig Freude am Leben. Frau Dr. Herbst wohnt in einem unauffälligen Einfamilienhaus unterm Dach zur Miete. Sie empfängt uns sehr freundlich und führt uns in ihre kleine Wohnung, die irgendwie jungmädchenhaft eingerichtet ist mit hellen Holzmöbeln, handgeknüpften kleinen Orientteppichen und vielen Pferdebildern und Pferdeskulpturen. Unsere Gastgeberin schenkt uns grünen Tee ein und erzählt:

„Ich kann jetzt natürlich nur sagen, wie es damals war. Auf den Transportern sind so etwa 20 Tiere pro Ladefläche – sie fahren direkt an die Rampe ran, die sie ja von außen gesehen haben. Im Gebäude sind mehrere Boxen, hier … Und meine Arbeit bestand dann darin, zuerst einen Blick auf den Transporter zu werfen, ob alle Tiere stehen. Als Zweites beobachtet man den Abladevorgang der Tiere, die mehr oder weniger einzeln vom Fahrzeug kommen, und da mache ich schon die erste Beobachtung der Tiere in der Bewegung. Ich stehe da, kurz vor der Mauer, und lasse vielleicht 40 Tiere an mir vorbeigehen.“ Auf unsere Bitte hin zeichnet sie mit einfachen Strichen den Weg der Rinder auf. „Und hier hinten ist irgendwo eine Tötebox, dort werden sie mit dem Bolzenschussgerät betäubt. Zu meiner Zeit wurde dann noch mit einem langen Kunststoffrohr durch den Bolzenschusskanal ins Rückenmark gefahren, damit das Tier nach dem Entbluten keine unkontrollierten Bewegungen mehr macht. Es ist zwar schon tot, aber das Rückenmark steuert noch relativ starke Reflexe – schon bei leichter Berührung kann es zu heftigen Abwehrbewegungen kommen, die den Mitarbeiter verletzen können. Deshalb hatte der Berufsverband der Metzger Wert darauf gelegt – aber der Rückenmarkzerstörer darf, seit es offiziell BSE gibt, nicht mehr angewendet werden, weil man ja die Keime weiterträgt von Tier zu Tier. Aber bestimmt auch mit dem Bolzenschuss … Also wie gesagt, die Tiere stehen hier Schlange vor der Tötebox, der Mann setzt den Bolzenschuss, das Tier bricht nieder, dann geht hier eine Klappe auf, das Tier wird am Hinterbein angeschlungen, entblutet, ans Band gehängt. Es muss sehr schnell gehen, das Tier ist ja nur bewusstlos, innerhalb von 60 Sekunden nach dem Bolzenschuss muss dann die eigentliche Tötung durchs Entbluten vorgenommen werden, das wird auch von Hand gemacht durch einen Mann … Dann geht es weiter zum Enthäuten, Ausschlachten usw. Bei Tieren ab 24 Monaten muss seit 2001 für den vorgeschriebenen BSE-Schnelltest eine Hirnprobe aus dem abgetrennten Schädel entnommen werden. Es gibt noch immer keinen Schnelltest am lebenden Tier, bis heute … Das Fleisch geht dann erst mal in die Kühlung, nach Chargen getrennt.“

Wir fragen, ob sie Fleisch und Wurst isst. „Rind schon seit 1990 nicht mehr, ansonsten, sehr selten, Geflügel. Schinken esse ich, aber nur hauchdünn geschnitten, im Prinzip esse ich nur Muskelteile, die ich sehen kann. Also wieder zum Thema, es war dann so, dass ich in den Pausen die Tiere in der U-Box gehabt habe, der Untersuchungsbox. Das eine hat eine Lungenentzündung, ein anderes geht lahm. Wenn entsprechende Auffälligkeiten waren, habe ich vorläufig beschlagnahmt. Mehr durfte ich ja nicht machen … Also insgesamt waren es oft mehrere hundert Tiere am Tag, 500 Rinder sind ohne weiteres zu schaffen, und wenn sie 500 beguckt haben, kommen die ersten Ermüdungserscheinungen. Aber ich habe es über die Routine gemacht, da kam mir meine lange Praxis vorher sehr zugute. Aber ich war natürlich nicht alleine, wir waren drei, vier Tierärzte und einer in der Pause. FRÜ-HER! Dann kam die Regelung mit den Fleischkontrolleuren oder Fleischinspekteuren. Die wurden ein paar Wochen ausgebildet und haben dann quasi dieselbe Arbeit gemacht am Band. Früher hatten wir noch eine richtige Isolierschlachtabteilung! Das wurde aus Ersparnisgründen auch eingestellt. Dort hatte ein Tierarzt die Aufsicht, er machte die Nachuntersuchungen, Endbeurteilungen, Laborproben usw. Dann hatten wir noch ein bis zwei Tierärzte im Innendienst, also praktisch Büro, Import, Export … Das heißt, wir hatten eine so genannte geteilte Fleischuntersuchung gehabt. Und was natürlich ganz wichtig ist für die Tierseuchenbekämpfung, das sind die beamteten Tierärzte im Kreis Segeberg. Sie sind zuständig für die Anordnung weiterführender Untersuchungen und Maßnahmen. Ich durfte nur vorläufig beanstandend sagen, dass hier ein BSE-Verdacht vorliegt, mehr konnte ich nicht anordnen. Und genau das war das Problem, meine Verdachtsfälle wurden anders diagnostiziert und zum Verzehr freigegeben. Es ist ein Krimi, der da abgelaufen ist in der Wirklichkeit!“ Frau Dr. Herbst steht auf und holt einige Papiere aus ihrem kleinen Büro.

„Ich hab Ihnen mal meine Fallliste ausgedruckt, leider ist der Drucker irgendwie defekt, aber Sie können’s noch lesen. Also, das erste Mal fiel mir im Sommer 1990 auf, dass mit einigen Tieren etwas nicht stimmte. Es konnte nicht Tollwut sein, auch nicht Tetanus, keine andere mir bekannte Diagnose passte, und ich hatte starke Befürchtungen, dass es sich um die bis dahin ja nur in England um sich greifende BSE-Krankheit handeln könnte. Diese Tiere fielen vollkommen aus dem Rahmen. Aus dem üblichen Rahmen! Das erste Rind hatte bei der Lebenduntersuchung diese traberartigen Bewegungsabläufe, und die folgenden drei Rinder hatten hochgradige, sehr eigenartige Bewegungsstörungen. Dann bei späteren Fällen fiel auch eine ganz starke Ängstlichkeit und Aggressivität auf. Und es ist ja so, dass ich weiß, wovon ich rede. Zum einen hatte ich mich schon vor meiner Bad Bramstedter Zeit ausführlich und intensiv z. B. mit Lahmheitsstudien des Pferdes befasst, also mit Bewegungsstörungen, und zum anderen habe ich als Fleischhygiene-Tierärztin von 1978 bis 1990, sagen wir mal, sicherlich 140.000 Rinder begutachtet. Da hatte ich natürlich einen sehr geschulten Blick gehabt. Ich habe dann damals selbst angefangen, mich wissenschaftlich mit der Sache zu beschäftigen, mir Unterlagen über Scrapie besorgt und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, denn irgendwo dazwischen, habe ich gedacht, muss ja BSE liegen. So bin ich vorgegangen, habe zu Hause Listen angelegt … Die Unterlagen aus England hatte ich ja erst etwas später, auf Umwegen über die Schweiz übrigens, die Kollegen durften dort ja nicht veröffentlichen und waren geknebelt, Unterlagen durften nur von der Regierung selbst herausgegeben werden. Die Unterlagen, die ich bekam, die waren mit einem Geheimhaltungsvermerk versehen, das heißt, ich konnte sie offiziell nicht zur Stützung meiner Diagnose heranziehen, es passte aber alles zu meiner Diagnose. Ich hatte intuitiv und haargenau die typischen Symptome herausgefischt. Genutzt hat das aber gar nichts. Im Fall dieser drei Rinder 1990 habe ich mir telefonisch Rückendeckung geholt beim Tiergesundheitsamt Hannover, ich wollte den Verdacht ja abgesichert haben. Man sagte mir, dass der zuständige Pathologe, Prof. Pohlenz, sich bereits in England mit BSE-Untersuchungsverfahren habe vertraut machen lassen. Sie ließen zwei Rinderköpfe abholen zur weitergehenden Untersuchung durch Prof. Pohlenz. Diese Untersuchungen entsprachen aber nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft und dem Erkenntnisstand eines Fachmannes, sie ergaben nichts. Ich bot meinerseits Mäuseversuche an. Das wurde von Dr. Pohlenz abgelehnt. So wurden auf Anweisung meiner Vorgesetzten diese Tiere zum Verzehr freigegeben wie auch in allen anderen Fällen.“

Sie seufzt, gibt ihre gespannte Körperhaltung für einen Moment auf, trinkt Tee und fährt dann fort: „Ich wollte ja einen Untersuchungsgang für BSE-verdächtige Tiere in Bad Bramstedt entwerfen … mit Hilfe von Doktoranten. Das war alles wunderbar mit meinem Arbeitgeber, dem Landrat von Segeberg besprochen.

März 92, nach dem 22. BSE-Verdachtsfall, hatte er mich zu einem persönlichen Gespräch rufen lassen, mir weitreichende Kompetenzen zugesagt. Das Ergebnis war dann, dass ich einige Tage später aus dem Stall – wo ja die Begutachtung des lebenden Tieres stattfindet – zeitweise quasi strafversetzt wurde ans Schlachtband. Da waren dann Schlachtkörper zu untersuchen, bei denen natürlich eine eventuelle BSE-Erkrankung gar nicht mehr ohne weiteres per Augenschein zu diagnostizieren ist. Dem ging bereits einiges voraus an Einschüchterungsversuchen und Maßregelungen. Anfangs habe ich mich mit den Kollegen ja noch über die Dinge unterhalten, bis die Herrschaften dann einen Maulkorb bekamen, sodass ich ziemlich alleine dastand. Das zehnte Tier war Februar 91, ein rotbunter Bulle, er sollte zur Diagnosesicherung lebend nach Hannover gebracht werden. Ich hatte das mit der Tierärztlichen Hochschule alles geklärt, die Transportpapiere waren bereits ausgefertigt, alles mit dem Veterinäramt abgeklärt. In meiner Abwesenheit wurde dann das Tier aber in Bad Bramstedt geschlachtet und nach feingeweblicher Pseudountersuchung durch Prof. Pohlenz ohne Feststellung der Krankheitsursache für den Handel freigegeben. Danach wurde mir übrigens von Kollegen mitgeteilt, dass meine Vorgesetzten zukünftig alles tun werden, um die Bestätigung eines BSE-Verdachtes zu verhindern. Seit März 1990 gab’s einen Beschluss der EU, dass alle BSE-Fälle gemeldet werden müssen! Bei Tier Nr. 15, im Dezember 91, wurde bei uns beschlossen, dass innerbetrieblich in Zukunft abgestimmt werden soll, ob eine BSE-Verdachtsmeldung an das Veterinäramt Segeberg, das zuständig ist für die Tierseuchenbekämpfung, weitergegeben werden soll oder nicht.“

Frau Dr. Herbst sagt mit entschlossenem Gesichtsausdruck: „So, ich will jetzt Rote Grütze essen“ und erhebt sich. Wir folgen ihr in die bescheidene kleine Küche, wo die Grütze aus selbst gepflückten eingefrorenen Beeren gerecht in Schälchen verteilt und beim weiteren Gespräch mit Andacht gegessen wird. „Im März 93 wurde ich fortan gezwungen, auf einer schadhaften, vom TÜV ausgemusterten Hebebühne – die Hydraulik war defekt – zu stehen und zu arbeiten. Das war eine üble Schikane. Man muss sich das so vorstellen“, sie zeichnet kaum Erkennbares, „hier ist das Band mit dem Haken, hier hängt das Rind, der Kopf ist nicht mehr da, es ist enthäutet und durchgesägt … Hier stehe ich mit meinem Messer, so, und die Hebebühne hat pro Minute immer wieder plötzliche Absenkungen, wie im Flugzeug fast, bei den Luftlöchern … Und da sind bei mir nicht nur die Bandscheiben gestaucht worden, sondern auch der Übergang vom Beckenknochen zur Wirbelsäule. Und wir mussten nicht nur die hier übliche Arbeit verrichten, also Nieren abtrennen, Nieren-Lymphknoten ausschneiden, wir mussten damals auch das Fett rausschneiden und die Schwänze abtrennen. Also, in dieser Zeit war man mit mechanischen Schlachtarbeiten beschäftigt und konnte anderes gar nicht mehr beurteilen. Gleichzeitig hat aus meiner Sicht die Nordfleisch dabei eine Arbeitskraft eingespart. Aufgrund dieses Rückenschadens durch die Hebebühne hatte ich wahnsinnige Schmerzen gehabt, war lange Zeit krank, bin in der Spezialklinik gewesen und war ganz schön angeschlagen. Mein Anwalt bat 1994 schriftlich um Rückversetzung aus gesundheitlichen Gründen vom Schlachtband in den Stall. Ich wollte aber auch wegen des Verbraucherschutzaspektes wieder in den Stall. Die Bitte wurde von der Segeberger Kreisverwaltung abgelehnt. Daraufhin, nachdem man mir jeden Weg versperrt hatte, beschloss ich, mit der Problematik an die Öffentlichkeit zu gehen.“

Sie sucht in einem Stapelchen von Papieren. „Ja, es gibt Schriftverkehr, umfangreichen. 78 Aktenordner … die meisten davon sind bei den Anwälten … Ich habe dann im August 94 in einer Sat.1-Sendung darüber berichtet, in welcher Weise BSE-verdächtige Rinder durch Vorgesetzte als unbedenklich erklärt werden und wie gefährlich dieses Verhalten ist, weil es Einschleppungsmöglichkeiten und Verbreitungsrisiken direkten Vorschub leistet. Dann hatte ich erfahren, dass eine Vielzahl von billigen britischen Kälbern in Holland von unseren Viehhändlern gekauft und auf dem Bad Bramstädter Schlachthof der Norddeutschen Fleischzentrale geschlachtet worden waren. In dieser ganzen Angelegenheit war ja eigentlich immer Gefahr im Verzug, da kann man es mir ja nicht verdenken, wenn ich dagegen einschreite. Und ich bin als Expertin für BSE an die Öffentlichkeit gegangen, da kann ich natürlich nicht verschweigen, dass ich Mitarbeiterin eines Kreises und Betriebes bin, wo permanent verharmlost und verschleiert wird.

Danach haben sich die Dinge überschlagen. Im Oktober erhielt ich eine Unterlassungsklage des Schlachthofbetreibers, Abmahnung und Androhung der fristlosen Kündigung durch den Kreis, und im Dezember 94 kam eine fristlose Kündigung wegen des Bruchs meiner dienstlichen Verschwiegenheitspflicht …

Also, fortan war ich fast nur noch mit Gerichten und Juristischem beschäftigt … Es verfolgt mich bis heute im Prinzip. 1995 habe ich quasi alle zwei Monate ein Gerichtsverfahren gehabt. Also, ich habe allein sozusagen vor Gericht gestanden, niemand trat mir zur Seite außer meinem Anwalt, kein Mitarbeiter des Schlachthofs hat letztendlich gewagt, meine Angaben zu bestätigen. Ich habe aufbegehrt, so wurde das empfunden, auch gegen einen mächtigen Fleischkonzern – inzwischen ist er wohl der zweitgrößte Europas. Jedenfalls, um es kurz zu machen, das Landgericht und das Oberlandesgericht fällten ihre Urteile zu meinen Gunsten, die Klage von Nordfleisch wurde abgewiesen, ich wurde nicht zur Zahlung einer halben Million Schadenersatz verurteilt. Die Arbeitsgerichtsprozesse haben mir im Gegensatz dazu in mehreren Instanzen nur Niederlagen gebracht. Das Loyalitätsgebot gegenüber dem Dienstherrn und die Schweigepflicht wurden über die öffentlichen Belange und die Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit gestellt. Damit war ich dann sozusagen ruiniert. Entlassen, kaltgestellt, ausgeschaltet, mein Ruf zerstört, bekannt wie ein bunter Hund. Von der Fleischindustrie und den Bauern gehasst. Deshalb gab’s auch keine Hoffnung auf eine neue Arbeit.“

Sie schweigt einen Moment verbittert und sagt dann: „Das ist der Preis, den ich bezahlen musste – oder noch muss. Aber der Preis, den die Allgemeinheit bezahlt hat und noch zu bezahlen haben wird für die BSE-Folgekosten, der ist schon jetzt in Milliarden zu beziffern, europaweit. Und hier ist es doch so: Wenn wir die ersten Fälle damals gleich ordnungsgemäß untersucht und aus dem Verkehr gezogen hätten, dann hätte Deutschland vielleicht nur Einzelfälle gehabt. Man hätte parallel mit der Forschung beginnen können – heute kostet das ungeheure Summen – wir wären vielleicht viel früher an ein Ziel gekommen, und die Bevölkerung hätte beruhigt sein können, weil wir alles tun, um diese Tiere ’rauszugreifen. Stattdessen ist seit 1990 zehn Jahre lang nichts geschehen und nur vertuscht oder verharmlost worden, nicht nur bei uns! Es sind allein in Bad Bramstedt von 1990 bis 1994 24 Rinder BSE-verdächtig gewesen, und es haben ja bei uns auch andere Kollegen BSE-Verdachtsfälle gemeldet, ich war nicht die Einzige. Es müssen ja auch viele andere Kollegen an anderen Schlachthöfen etwas gesehen haben, beispielsweise in Bayern, Niedersachsen … Aber es war wohl wie bei uns ein NICHT-SEHEN-WOLLEN. Das ist eine organisierte Wahrnehmungsverweigerung gewesen! Verschiedene Personen und Gruppen haben systematisch versucht zu verhindern, dass BSE öffentlich zur Kenntnis genommen wird, das geht von den zuständigen Bundes- und Landespolitikern über Bauernverbände, die Fleisch-,Nahrungs- und Futtermittelindustrie bis hinunter zu den Verantwortlichen in den Kreisen und Ämtern. Ein Komplott der Verdränger, Verharmloser, Vertuscher hat es geschafft, zehn Jahre lang das Problem abzuwürgen.

Im März 2000 erklärte der Bundeslandwirtschaftsminister „Deutschland ist BSE-frei!“ Am 24. November wurde in Deutschland der erste Fall von BSE bei einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Rind diagnostiziert mit dem ‚Prionic-Check‘, dem Schnelltest. In Schleswig-Holstein war es, ich würde sagen, 35 Kilometer von hier!“

Frau Dr. Herbst sagt es ohne Genugtuung. „Nein, ich wusste es ja. War sicher, dass die Katastrophe schon zehn Jahre währte … Wissen Sie, das Ganze war natürlich auch psychisch sehr belastend für mich. Vor einem Jahr etwa habe ich die Sache abgebrochen, keine Vorträge mehr, keine Publikationen. Auch aus finanziellen Gründen … meine Wohnungen werden immer kleiner, immer billiger. Eine Entschädigung habe ich bis heute nicht bekommen, im Gegenteil, zehn Jahre Zwangsarbeitslosigkeit fehlen mir an der Rente. Ich sag’s Ihnen: 2.400 Mark, 1.227 Euro bekomme ich, davon gehen ungefähr 900 Mark bzw. 460 Euro für die Wohnung ab, ich hab’ das kleine Auto, Telefon usw., davon können Sie nicht mehr Reisen machen, Manuskripte verschicken, und Bücher oder Fachzeitschriften sind auch nicht drin. Immerhin steht die Öffentlichkeit in Schleswig-Holstein inzwischen hinter mir, auch die Landwirte. Die sagen: Ach, hätte man doch damals untersucht! Manchmal denke ich, ich hätte lieber in Gartow bleiben sollen, 1978, aber nach der Scheidung wollte ich weg mit den Kindern. Ich habe ja dort eine richtige eigene Landpraxis gehabt, eine Großtierpraxis. Das Arbeitsklima war unglaublich angenehm, denn wir haben nicht gegeneinander gearbeitet, sondern miteinander. Die Bauern waren anfangs zwar misstrauisch, aber das Erste, was dann eingeschlagen hat: Ich habe die Hengste im Stehen kastriert. Also habe ich sie nicht abgelegt mit Narkose, sondern nur örtlich betäubt. Ich brauchte einen Mann am Kopf und die Oma am Schwanz zum Festhalten, ein bisschen Nasenbremse zum Ablenken, das war’s. Ich kam mit anderthalb Kräften aus. Aber jetzt legen Sie mal so einen kräftigen Hengst ab, dann brauchen Sie mindestens drei Männer. Das hat sich natürlich wahnsinnig schnell ’rumgesprochen, dauernd riefen Leute an und wollten ihre Hengste von mir kastrieren lassen.“

Während wir lachen, bleibt sie ernst. Wir fragen nach der Sache mit dem Bundesverdienstkreuz, das man ihr verleihen wollte und dann doch wieder nicht. „Ich will’s ganz kurz so erklären: Ich wurde vorgeschlagen, und die Kieler Landesregierung war angeblich bereit, das zu befürworten. Dann wurde ich zu einem Gespräch gebeten zur Lübecker Bischöfin Wartenberg-Potter, die einen so genannten Friedensprozess zwischen den früheren Verfahrensbeteiligten, also dem Land Schleswig-Holstein und mir, organisieren sollte. Mein Anwalt begleitete mich zum Glück. Sie gab mir unverblümt zu verstehen, dass man bereit sei, mir das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, vorausgesetzt, ich verzichte auf alle Ansprüche gegen das Land und den Kreis. Ich habe natürlich die Annahme eines Bundesverdienstkreuzes daraufhin rundweg abgelehnt. Das wäre ja wirklich ein Kuhhandel! Anerkennung und Preise habe ich schon genug. Hier gegenüber hat ein Mann ein Bundesverdienstkreuz bekommen dafür, dass er soundsoviele Jahre einen Regenmesser abgelesen hat.“