Das Kreisen der Seele

Keine Geschichten mehr: Ines Pedrosas Roman „Du fehlst mir“

Es ist die Geschichte einer Liebe, doch sie beginnt erst, als es unwiderruflich vorbei ist. Die beiden hatten sich längst schon aus den Augen verloren, was sollen sie sich jetzt noch zu sagen haben? Noch dazu, wo sie tot ist. Doch der Dialog geht weiter. Oder vielmehr: Er hebt jetzt erst eigentlich an. An der Universität von Lissabon hatten sie sich kennen gelernt, die junge Geschichtsdozentin und ihr sechzigjähriger Gasthörer. Durch Klau aus seinen Seminararbeiten verschafft sie sich akademischen Ruhm – eine nur anfangs unfreiwillige Zusammenarbeit, aus der der Plan erwächst, ein gemeinsames Werk zu schreiben, das die abendländische Geschichtsschreibung aus den Angeln heben soll – und eine intime Freundschaft, die niemals den „verräterischen Fluss namens Sex“ überquerte.

Dann tauschte sie Universität gegen Politik, Strickpullis gegen Kostümchen, und man fand nicht mehr zueinander. Als sie aber unerwartet stirbt, beginnt ein Zwiegespräch. Über die Grenze von Liebe und Tod hinaus. Der Geist und der Zurückgelassene antworten einander, ohne die Worte des anderen auch hören zu können. Ein langsamer Tanz liebender Autisten, der in immer größeren Kreisen sich zieht um das, was in solchen Momenten zur Debatte steht: Leben, Liebe, Tod und Gott.

Die Portugiesin Ines Pedrosa hat die jeweils fünfzig aufeinander antwortenden kleinen und etwas größeren Monologe protokolliert und auf diese Weise das nie entstandene gemeinsame Buch der beiden Namenlosen post mortem nachgereicht. Dabei war sie offensichtlich weniger an der zugrunde liegenden Situation interessiert als an der sprachlichen Gestalt. Sie ist geprägt von einer konzentrierten Eleganz, die sich in keinem Moment um die Unterschiede schert zwischen diesen beiden recht verschiedenen Menschen – und ihren nunmehr sehr verschiedenen Aggregatzuständen. Es herrscht das freie Schweben einer intensiven und zugleich kühlen Prosa: Elegien zweier Liebender, die getrennt wurden, bevor sie davon wussten. Wie ein Trennungsgespräch, das die beiden nie hatten, geben sich diese Gesänge retrospektiv und doch auch nicht, denn sie sind paradoxerweise auch ein Dokument des Sich-neu-Verliebens: mit leisem Bereuen und behutsamem Spott binden Erinnerungen und Wünsche die beiden Liebenden mit jeder Seite enger aneinander.

Wie aber lässt man ein solches Buch enden? Ines Pedrosa hat leider eine völlig unpassende Form gewählt, so als wolle sie ihrem Protagonisten die faire Chance geben, sich doch noch zu opfern – wenn nicht für seine gestorbene Freundin, dann doch für ein anderes junges Mädchen, das über die Straße rennt. Dass sein ohnehin schon alter Körper einfach nur zu Ende verfällt, mag Ines Pedrosa ihrem ätherischen Entwurf wohl nicht zumuten. „Du fehlst mir“ ist ein im besten Wortsinne romantisches Buch: das ausformulierte Schlussbild von Joseph Bediers altem Tristan-Roman – jener blattreiche Brombeerstrauch, der, aus dem Grab aufwachsend, die Liebenden nach deren Tod erst vereint. „Ich brauche keine Geschichten mehr zu erzählen“, sagt am Ende die Geisterstimme der Frau, „wichtig ist nicht der Plot, die Form, nicht einmal die Farbe. Wichtig ist das gemeinsame Kreisen eines Körpers und einer Seele um den nackten Kern ihrer Wahrheit.“

Es gehört viel Mut dazu, sich mit einem Roman und ohne jede Ironie so nahe an die Grenze zum Kitsch zu begeben. Ines Pedrosa aber bringt es sogar fertig, diese Grenze dabei niemals zu überschreiten. SEBASTIAN HANDKE

Ines Pedrosa: „Du fehlst mir“. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Verlag, München 2004, 260 Seiten, 20 Euro