Was Knochen erzählen

Die Felder des Politischen: Filip Florians Debütroman „Kleine Finger“

Der Berufsstand des Forensikers ist in den vergangenen Jahren als Ermittler in Kriminalromanen zunehmend in Mode gekommen. Insofern wäre der grob nacherzählte Plot von Filip Florians Debütroman durchaus dazu angetan, als Grundlage für einen Thriller zu dienen: In einem rumänischen Karpatendorf wird bei der archäologischen Arbeit an einem römischen Castrum ein Massengrab entdeckt. Die Hysterie vor Ort ist groß; selbstverständlich, so der fast einhellige Tenor, müsse es sich bei dem Fund um die Spuren eines Verbrechens aus der Ceaușescu-Zeit handeln; wer dies leugne, müsse wohl etwas zu verbergen haben.

„Kleine Finger“ hat mit einem Kriminalroman aber nun rein gar nichts zu tun (die Auflösung wird an dieser Stelle dennoch nicht verraten). Für Filip Florian ist die Ausgrabung der Skelette lediglich der Anlass des Erzählens, in dessen Verlauf das Dorf zum Schauplatz von Geschichte wird. Und diese Geschichte, das dürfte die vornehmlichste Botschaft des Buches sein, kennt keine eindeutige Wahrheit; nicht jedenfalls, wenn sie in Form von Literatur daherkommt. Florians Erzähler nämlich hat so gar kein brennendes Interesse an der Aufklärung des vermeintlichen Verbrechens. Vielmehr interessiert Petrus, ein Archäologe, der bei seiner Tante im Dorf wohnt, sich für die Lebensläufe der Einheimischen und, ganz nebenbei, für eine der Dorfschönheiten, die „Fersen wie Äpfel“ hat. Darauf muss man erst einmal kommen.

Petrus schweift ab und schweift aus, wechselt Perspektiven und Ebenen nach Belieben, bricht die Kontinuität von Zeit und Raum ständig auf und sorgt damit für einige Verwirrung. Das erzeugt ganz fabelhafte Momente, hin und wieder schießt der gut gelaunte Postmodernismus, der hinter diesem ästhetischen Konzept steckt, auch über das Ziel hinaus. Und doch: Wenn Petrus den verworrenen Biografien seiner Bekanntschaften quer durch ein ganzes Jahrhundert nachspürt, entwickelt das einen sprachlichen Sog, dem man sich schwer entziehen kann.

Das Eintreffen einer Gruppe von argentinischen Anthropologen, die die Knochenfunde untersuchen und datieren sollen (was schließlich auch gelingt), wird beispielsweise zum Anlass für einen Exkurs über die Geschichte Argentiniens, Diktaturen und Fußballweltmeisterschaften inklusive.

Auch anderen Opfern des kommunistischen Systems verhilft der Zuhörer Petrus zu ihrem Recht: Da wäre eine gewisse Lady Embury, deren englischer Ehemann einst als Ingenieur ins Land kam und im Zweiten Weltkrieg fiel. Oder auch der Mönch Onufrie, der bereits mehrere Existenzen hinter sich hat: Insasse eines Arbeitslagers einerseits; langjähriger Waldbewohner andererseits; eine Heiligenfigur, die zum anonymen Beichtvater eines antikommunistischen Partisanenkämpfers wurde. Überhaupt steckt in „Kleine Finger“ eine Menge an gläubigem und abergläubischem Potenzial – da wird gesegnet, gebetet und aus dem Kaffeesatz gelesen, dass es eine Freude ist.

Darüber ist allerdings unübersehbar, dass Filip Florian die Kategorie des Politischen niemals aus den Augen verliert. Immer wieder finden sich Verweise auf Grausamkeiten, Morde, vom Regime angeordnete Enteignungen. „Kleine Finger“ ist der höchst beachtliche Versuch, die Felder des Politischen und des Ästhetischen, nein: nicht miteinander zu versöhnen, aber doch zumindest nebeneinander existieren zu lassen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Das Widerständige, frei Fantasierende behält dabei stets die Oberhand.

Das ist nicht das Schlechteste, was sich über ein Debüt sagen lässt: dass der Eigensinn sich gegen Konventionen und Erwartungshaltungen behauptet, ohne sich bloß selbst zu genügen.

CHRISTOPH SCHRÖDER

Filip Florian: „Kleine Finger“. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 270 Seiten, 22,80 Euro