Die Reinheit des Leids

Europas neuer Antisemitismus (4): Deutschland, Weltmeister der Vergangenheits-bewältigung, sollte den osteuropäischen EU-Mitgliedern keine Ratschläge erteilen

Es gibt keine reinen, unschuldigen Völker, sosehr dieMythologie sich auch darum müht

Was ist eigentlich „neu“ am angeblich neuen Antisemitismus in einer Reihe der ostmitteleuropäischen Staaten, die jetzt der EU beigetreten sind? Was Inhalte und Äußerungsformen anlangt – alles wohlbekannt aus unserer eigenen Erfahrung. Wenig zur Kenntnis genommen hingegen werden die historischen Konstellationen, die die gegenwärtige Gestalt des ostmitteleuropäischen Antisemitismus bestimmen. Hier gibt es Verständnis- und Verständigungsprobleme.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass alle hier in Frage stehenden ostmitteleuropäischen Länder bis 1990 vom Realsozialismus beherrscht und – mit Ausnahme Sloweniens – der Hegemonie der Sowjetunion unterworfen oder von ihr annektiert worden waren. Sie alle fühlten sich als unschuldige Opfer von Fremdherrschaft. Tatsächlich bot die Herrschaft der Sowjetunion und ihrer Statthalter, die im Zweifel auch mit militärischer Gewalt aufrechterhalten wurde, reichlich Nahrung für das Entstehen einer Opfermentalität.

Dieses Gefühl, geschichtliches Opfer zu sein, ist manisch auf sich selbst zentriert, tötet das Mitleid mit anderen Opfern ab und zerstört die Fähigkeit, die Geschichte der eigenen Nation selbstkritisch zu überdenken. Wir kennen solche Haltungen aus unserer eigenen Geschichte und aktuell aus der Mentalität vieler Vertriebener aus den ehemals deutschen Ostgebieten.

Diese mentale Engführung ließ alle Anstrengungen scheitern, das Verhältnis einer Reihe ostmitteleuropäischer Gesellschaften zu ihren Juden zu reflektieren. Unter realsozialistischer Vormundschaft war aus taktischen Gründen der Komplex der aktuellen wie der historischen Judenfeindschaft beschönigt worden, alles im Zeichen einer „antifaschistischen“ Integrationsideologie. Viele jüdische Arbeiter und Intellektuelle hatten sich in der Zwischenkriegszeit den Kommunisten angeschlossen, weil sie hier ihre Sehnsucht nach Emanzipation aufgehoben sahen. Im Kollektivbewusstsein der Mehrheitsbevölkerung wurden die Juden später oft in toto verdächtigt, Helfershelfer und Nutznießer der sowjetischen Machtergreifung zu sein. Daher die bis heute geläufige Rede von der „Judäa-Kommune“. Die Realsozialisten haben sich während ihrer Herrschaft nie diesem Stereotypen-Komplex gestellt.

Aus der Opfermentalität folgte, nach dem Ende der realsozialistischen Herrschaft 1990 den Anteil der eigenen Gesellschaften an der Vernichtung des osteuropäischen Judentums klein zu reden. Diese Bestrebungen sind bis zu den jüngsten Äußerungen der lettischen Politikerin Kalniete spürbar. Der Selbstsicherheit in der Argumentation entspricht der Mangel an Forschung und Aufklärung hinsichtlich des realen mörderischen Tatbeitrags des eigenen Volkes. Wie auch die Teilnahme an Pogromen, an der Auslieferung von Juden an die Deutschen, am Raub jüdischen Eigentums allzu lange totgeschwiegen wurden. Heute werden jüdische Organisationen, die über Restitutionen verhandeln, dem alten Stereotyp folgend als geldgierige Blutsauger angesehen. Schlechtes Gewissen bestärkt die Immunisierungsstrategie.

Die Opfermythologie führt dazu, dass häufig die Geschichte der Zwischenkriegszeit in der Region mitsamt ihren autoritären Regimen aus der öffentlichen Diskussion ausgeblendet wird. Diese Regime der Zeit von 1919 bis 1939 waren teils antisemitisch eingefärbt, teils machten sie sich den Antisemitismus zunutze. Mit der einzigen Ausnahme der demokratisch gebliebenen Tschechoslowakei, in der allseits geachtete Politiker, voran Tomas Garrigue Masaryk, einen entschlossenen Kampf gegen den Antisemitismus geführt hatten. In der Bewertung der autoritären Regime der Zwischenkriegszeit begegnen wir häufig dem Argument, deren Antisemitismus sei christlich geprägt gewesen, konventionell im Volksglauben verwurzelt, habe sich nur gegen die „Übermacht“ der Juden im Handel und den intellektuellen Berufen gerichtet, sei vor allem nie von einem Vernichtungswillen getragen gewesen. Natürlich gab es qualitative Unterschiede zwischen dem Antisemitismus des ungarischen Diktators Horty und dem Hitlers, und natürlich ist der Antisemitismus der polnischen „Nationaldemokraten“ nicht mit dem der NSDAP gleichzusetzen. Aber in fast allen Ländern der Region gab es schroffe, staatliche Diskriminierungen der Juden, die der späteren Passivität, der Hinnahme des Mords den Boden bereiteten. Noch immer wird in einer Reihe der Beitrittsländer das „volkstümlich-katholische“ antijüdische Stereotyp überhaupt nicht als Ausdruck des Antisemitismus wahrgenommen.

Das Gefühl, Opfer zu sein, ist manisch auf sich selbst zentriert, tötet das Mitleid mit anderen Opfern ab

Bis heute sehen Intellektuelle in der ostmitteleuropäischen Region als eigentliches Kernproblem die Wahrung ihrer nationalen Identität, die sie durch das angeblich kosmopolitische, das urbane, das intellektuelle Judentum bedroht glauben. Als Angehörige zahlenmäßig kleiner Völker verfolgt sie der Wahn, deren Eigenart und Sprache seien vom Untergang bedroht und müssten durch die Wiederbelebung bodenständiger Werte, etwa des „Ungarntums“, gerettet werden. Hier trifft sich der Antisemitismus mit einer konservativen Kritik an der zerstörerischen Wirkung einer westlichen Einheitszivilisation. Dieser Antisemitismus scheut nicht davor zurück, den „Holocaust“ des eigenen Volkes heraufzubeschwören. Wir erleben seitens der politischen Eliten wie innerhalb der Bevölkerung Ostmitteleuropas eine Auseinandersetzung, die der belgische Historiker Jean-Michel Chaumont treffend als „Konkurrenz der Opfer“ gekennzeichnet hat. Wenn die lettische Außenministerin Sandra Kalniete in ihrer Leipziger Rede die Kollaboration mit den Nazis bei der Judenvernichtung einfach verschweigt und die Leiden des lettischen Volkes unter der Sowjetherrschaft in den Vordergrund rückt, dann kämpft sie um die Anerkennung dieses Leids durch die Völker und Staaten der EU. Dieser Kampf um Anerkennung ist sicher berechtigt, denn der Charakter und das Ausmaß des Stalin’schen Terrors gegenüber der lettischen Bevölkerung ist im Westen nicht bekannt oder wird gering geschätzt. Kalniete will dieses Leid rein erhalten, will den Kampf der Letten gegen zwei Totalitarismen ins europäische Erbe einbringen. Aber es gibt keine reinen, unschuldigen Völker, sosehr die Opfermythologie sich auch darum müht.

Was tun gegenüber diesem Knäuel aus Emotionen und Interessen? Deutschland, der Weltmeister der „Vergangenheitsbewältigung“, täte gut daran, sich mit Ratschlägen Richtung Osten zurückzuhalten, auch wenn diese multilateral via EU zu Gehör gebracht werden. Viel wichtiger, viel erfolgversprechender scheint es, das Augenmerk auf öffentliche Auseinandersetzungen zu lenken, die zum Thema Antisemitismus und Judenverfolgung in den östlichen Beitrittsländern tatsächlich stattfinden, diese Auseinandersetzungen kritisch und solidarisch zu begleiten. Die leidenschaftlich und unter Schmerzen geführte Debatte um das Pogrom polnischer „Nachbarn“ an den Juden Jedwabnes 1941 zeigt den richtigen Weg. CHRISTIAN SEMLER