zwischen den rillen
: Von den Temptations lernen heißt singen lernen

Motown feiert seinen 50. Geburtstag. Hat das Label noch etwas zu sagen? Was tun, wenn’s ernst wird mit der Krise?

Viel ist in diesen Tagen von der Krise die Rede. 2008 habe sie geprägt, und 2009 werde alles noch viel schlimmer. Wobei es eine eigenartige Lücke zwischen den Nachrichten und der lebensweltlichen Wahrnehmung gibt: Es mag die schlimmste Finanzkrise seit der großen Depression sein. Aber mal ehrlich: Hat irgendjemand an Silvester weniger geböllert als vor einem Jahr? Sich an Weihnachten einen Braten gespart? Nein. Pop spielt genau in diesem Feld zwischen erlebter Wirklichkeit und all den Gedanken, Ängsten und Begehrlichkeiten, mit der wir sie besetzen. Wie wird der Pop also mit dem großen Krisenjahr 2009 umgehen?

Fünfzig Jahre wird das legendäre Soullabel Motown dieser Tage alt. Eine große 10-CD-Box mit allen Nummer-1-Hits des Labels ist gerade erschienen – wobei mit einem erweiterten Begriff von Nummer-1-Hit operiert wurde. Nicht nur die US-Charts zählen, sondern alle wichtigen Charts. Und interessanterweise kann, wer sich durch die fünfzig Jahre Motown hört, wunderbar einige der Krisenbewältigungsmodi sehen, die Pop zur Verfügung stehen.

Da ist zum einen das Modell: Die Show muss weitergehen. Am vollkommensten umgesetzt von Smokey Robinson in „I Gotta Dance To Keep From Crying“. Es ist das Lied einer gescheiterten Liebe, lässt sich aber ohne weiteres auf das große Ganze übertragen. Wer tanzt, muss nicht an die Miete denken. Dann das Modell Zweckentfremdung: „Dancing In The Streets“ von Martha Reeves & The Vandellas war eigentlich ein Tanzknaller. Tatsächlich bildete es mit seinen Zeilen „Party now around the world / are you ready for a brandnew beat“ den Soundtrack für viele Riots in amerikanischen Armenvierteln.

Am interessantesten aber: die Temptations. Als sie anfingen, waren sie ein Quintett elegant-sehnsüchtiger Liebhaber, die mit einem Stück wie „My Girl“ berühmt wurden. Dann übernahm der vor einigen Monaten gestorbene Produzent Norman Whitfield die Gruppe und verpasste ihnen einen Sound, der zum Aufruhr der späten Sechziger passte. Stücke wie „Ball Of Confusion“ oder „Psychedelic Shack“ sind Meisterwerke der Desorientierung: Wahwah-Gitarren, Echokammern – der Sound ist so unübersichtlich wie die Verhältnisse. Vor allem aber änderte Whitfield die Struktur des Gesangs. In ihren frühen Hits hatten die Temptations einen Leadsänger und vier Begleiter. Eine klar strukturierte Angelegenheit. Nun singen alle fünf durcheinander. Es gibt noch einen Leadsänger, aber wie eine aufgeregte Menschenmenge mischen sich Bass, Tenor und Falsett mit ihren Zeilen ein. Das, wovon sie singen, spiegelt sich in der Art, wie sie es singen. Wie fast immer in den Künsten: Was zählt, ist die Form.

Einen richtigen Protestsong sucht man auf den zehn CDs übrigens vergeblich. TOBIAS RAPP

„The Complete Motown No. 1’s“ (Motown/Universal)