Verletzungen eines Grenzgängers

Jürgen Möllemann ist politisch und persönlich stets bis zum Äußersten gegangen – gelegentlich sogar ohne Rücksicht auf Anstand und Moral

Er sagte: „Ich lass mir doch nicht von einer Partei vorschreiben, ob ich mich politisch betätigen kann“

von BETTINA GAUS

Noch in der letzten Woche saß er im Café Einstein, einem beliebten Treffpunkt von Politikern und Journalisten am traditionsreichen Boulevard Unter den Linden in Berlin. Eindringlich beugte er sich nach vorne, redete auf seinen Gesprächspartner ein. Falls Jürgen W. Möllemann seine weitere Umgebung wahrgenommen hat, dann ließ er es nicht erkennen. Ausschließlich auf sein Gegenüber schien sein Blick fixiert zu sein, starr. Aber er dürfte genau gewusst haben, wer an den Nachbartischen saß. Schließlich hatte er immer ein feines Gespür für Atmosphärisches – ein Talent, das für seinen Aufstieg wohl ebenso verantwortlich gewesen ist wie für seinen Niedergang.

Jürgen Möllemann wusste, was ankommt: ein Leben, das die Grenzen des Möglichen auslotete, politisch wie persönlich. Seit dem Aussterben der Kriegsgeneration gibt es nicht mehr viele deutsche Politiker, die das in der Öffentlichkeit – auch – bestehende Bedürfnis nach persönlichem Einsatz bis zum Äußersten und nach der Sinnlichkeit von Grenzerfahrungen befriedigen. Möllemann hat es getan.

Wahlkämpfe bestritt er mit Fallschirmsprüngen und mit dem scheinbar zur Erfolglosigkeit verdammten Griff nach den Sternen. Das gescheiterte „Projekt 18“ der FDP war ebenso seine Idee wie die Forderung, die Kleinpartei möge einen eigenen Kanzlerkandidaten stellen. Größenwahn? Oder ein Hinweis auf den Wunsch, nichts von dem als gegeben hinnehmen zu müssen, was scheinbar unverrückbar war?

„Er hat die Menschen nicht gelangweilt“, sagte gestern ein Fernsehkorrespondent. Das ist wahr. Aber was heißt das? Ist das bereits ein Verdienst in einer Zeit, in der immer mehr Politiker nur als Verwalter vermeintlicher Sachzwänge wahrgenommen werden? Ja, vielleicht.

Die letzten Monate des Lebens von Jürgen W. Möllemann werfen die Frage nach dem Selbstbild und den individuellen Zielen von Politikern auf. Es sieht so aus, als habe sich Möllemann niemals etwas anders vorstellen können als ein derartiges Leben. Bei seinem Eintritt in die Junge Union war der im Juli 1945 geborene Jugendliche gerade 16 Jahre alt. „In dem Dorf, wo ich aufgewachsen war, gab es nichts. Ich habe mich im Sportverein engagiert. Das Einzige, was es sonst noch gab, war die Junge Union. Ich wollte mich betätigen“, sagte Möllemann viele Jahre später im taz-Gespräch. Betätigung als Selbstzweck: der Vorwurf begleitete den studierten Lehrer ein Leben lang.

Die CDU-Mitgliedschaft blieb Episode. 1970 trat Möllemann in die FDP ein, wenig später saß er – nur 27 Jahre alt – zum ersten Mal im Bundestag. In den Jahren danach hat er beinahe alle Höhen und Tiefen durchlebt, die einem Politiker widerfahren können – einschließlich vieler Verletzungen, eigener und solcher, die er anderen zufügte.

Für fast alles war er irgendwann zuständig: für Auswärtiges, für Wirtschaft, für Bildung. Niemals aber ist er Bundeskanzler geworden, nicht einmal Außenminister. Nie durfte er allein darüber bestimmen, was zu geschehen hatte. Wie lange erträgt das einer, der sich für fähiger hält als die meisten derjenigen, die Spitzenämter seit Bestehen der Bundesrepublik innegehabt haben?

Jürgen Möllemann teilte das Schicksal anderer, herausragender Persönlichkeiten, die sich für eine Karriere in kleinen Parteien entschieden haben: Es kann steil nach oben gehen – aber die Grenzen sind klar definiert. Der FDP-Politiker scheint diese Grenzen für noch schwerer erträglich gehalten zu haben als seine Kollegen.

Er hat sich viele Feinde gemacht. Aber selbst viele dieser Feinde glaubten, ohne ihn nicht auskommen zu können. Auf jeden Absturz folgte ein Aufstieg, dessen Zähigkeit beeindruckte. Vor der Bundestagswahl aber ging Jürgen Möllemann zu weit. Er griff zum letzten vorstellbaren Mittel der Selbstdarstellung eines deutschen Politikers – und zündelte mit dem Thema des Antisemitismus. Da hatte er zu hoch gepokert. Die Partei gab ihm, wenn auch nach langem Zögern, den Abschied.

1997 hatte die taz Jürgen Möllemann gefragt, was er täte, wenn ihn die FDP jemals aus ihren Reihen ausschlösse. Damals musste er nicht lange überlegen: „Eine neue Partei gründen.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich lass mir doch nicht von einer Partei vorschreiben, ob ich mich politisch betätigen kann.“

Er wollte sich engagieren. In seinem Dorf gab es nur den Sportverein – und die Junge Union. Er trat ein

In dieser Einschätzung seiner eigenen Möglichkeiten hat er sich nachweislich geirrt: Kein noch so charismatischer Politiker kommt derzeit in der Republik ohne die Rückendeckung einer Partei aus. Das Ende seiner Mitgliedschaft in der FDP bedeutete für Möllemann auch das Ende seiner politischen Laufbahn.

Hat er sich jemals wirklich ausgemalt, was das für ihn bedeuten würde? Ganz und gar verständnislos hatte er 1982 beobachtet, dass der Bündniswechsel der FDP und der damit verbundene Sturz des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt manche seiner Parteifreunde zu Tränen rührte: „Ich heule doch nicht wegen einem Sozialdemokraten. Die heulen auch nicht wegen uns.“ Das war arg kurz gesprungen.

Alle Nachrichten überraschender Todesfälle lösen Erschrecken aus, jeder Hinweis auf möglichen Selbstmord ist Anlass für Entsetzen. Was immer der unmittelbare Anlass für einen – bislang nicht bewiesenen – Freitod von Jürgen Möllemann gewesen sein mag: „De mortuis nihil nisi bene.“ Über die Toten nichts, es sei denn Gutes. Dem altmodisch anmutenden Grundsatz liegt eine tiefe Weisheit zugrunde. Jedes Leben hat seinen Wert. Und wer will sich jetzt schon mit einer Detailanalyse der jüngsten Äußerungen des ehemaligen FDP-Politikers beschäftigen?

Ohnehin ist es um ihn in den letzten Wochen still geworden. Hektische Versuche, doch noch öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, blieben erfolglos. Kaum jemand im politischen Berlin glaubte noch an die Möglichkeit eines Comeback des schillernden „Promis“, der sein Engagement für den Fußballverein Schalke 04 jahrelang gleichberechtigt neben seinen Einsatz für seine Partei gestellt sehen sollte. War es das Erlöschen der Blitzlichter, das er am Ende nicht mehr ertragen hat?

Genau wird die Öffentlichkeit das vermutlich niemals erfahren. Schließlich ranken sich auch um den möglichen Selbstmord des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel bis heute viele Rätsel. Fest steht: Jürgen Möllemann war ein großer Kommunikator, und es ist außergewöhnlich, dass ein Mann seiner Generation die Politik für wichtig genug gehalten hat, um ihr sein Leben zu widmen. Über anderes muss nicht mehr geredet werden. So bedeutend war er nicht, dass Streit über sein Wirken noch nach seinem Tod gerechtfertigt wäre. Er hinterlässt eine Frau und Kinder. Sie haben ihr Bild von Jürgen Möllemann.