Auftrieb statt Apokalypse

Das Geheimnis von Techno ist unkaputtbar: Das Kölner Plattenlabel Kompakt floriert trotz dertiefen Krise der Musikindustrie. Eine Begegnung mit dem Kompakt-Mastermind Wolfgang Voigt

VON CORNELIUS TITTEL

Blutige Ostern: Jesus ist für unsere Sünden gestorben, die Musikindustrie für ihre eigenen. Spätestens seit den Kahlschlägen der letzten Wochen, dürfte auch dem letzten Optimisten dämmern, dass nicht jedes Himmelfahrtskommando mit einer Auferstehung endet. Die deutsche Musikindustrie ist dieser Tage eine Branche in Auflösung, sie ist, wie Sony-Chef Balthasar Schramm formuliert, die „Avantgarde der Katastrophe“ – nur wer jetzt noch in Lohn und Brot steht, darf weiter an Wunder glauben.

Der immer größer werdende Rest muss sich zu den Opfern eines in der deutschen Wirtschaftsgeschichte beispiellosen Passionsspiels zählen. Die Köpfe, sie rollen: Virgin Deutschland etwa stellt seine Geschäfte ein, der Standort München wird ersatzlos gestrichen. Warner Music löst die Klassik-, Dance- und Jazz-Abteilungen auf und trennt sich von der Hälfte der Belegschaft. Die EMI feuert weltweit 1.500, in Deutschland ein gutes Viertel ihrer Leute. Und, als wäre das alles nicht endzeitlich genug, teilt die BMG mit, sich von 75 Prozent ihrer nationalen Künstler zu trennen. Es ist, als wäre ein Wettbewerb ausgebrochen, wer am lautesten Bankrott erklärt. Es ist Apocalypse now. Vor allem aber ist es: ziemlich traurig.

Wolfgang Voigt kann über die Schreckensnachrichten der Karwoche nur müde lächeln. Eines seiner Label heißt „Auftrieb“, und Voigt gilt als Mann, der hält, was er verspricht. Hinter dem 43-Jährigen, im zweiten Stock eines Fünfzigerjahrebaus in der Kölner Innenstadt, steht eine dieser abwischbaren weißen Tafeln, wie sie in Fahrschulen oder Kongresszentren zu finden sind. Ein roter Pfeil geht im Zickzackkurs von links unten nach rechts oben.

Darunter der Name der Firma, die Voigt gemeinsam mit Michael Mayer und Jürgen Paape sowie 14 Angestellten weltberühmt gemacht hat: Kompakt. „Ein kleiner Scherz am Rande“, sagt Wolfgang Voigt mit Blick auf die Tafel, obwohl er weiß, dass der Pfeil Wahrheit spricht. Es geht aufwärts, stetig und seit Jahren schon, aber: Man will ja nicht hochmütig wirken, als Gewinner in einer Branche voller Verlierer.

Wolfgang Voigt verdient sein Geld mit einem Format, von dessen Eigenschaften die Manager der Pleite-Majors nur träumen können: garantiert nicht kopierbar, robust in der Haltung und im Klang jeder CD überlegen: Vinyl. Unten, im Laden, wird es an Selbstabholer verkauft, eine Etage höher, im Vertrieb, an ein weltweites Netz von anderen Plattenläden. Dass sich ausgerechnet die Veröffentlichungen des hauseigenen Labels Kompakt am besten verkaufen, würde Voigt niemals zugeben. Nur so viel: „Sie verkaufen sich gut, um nicht zu sagen: gigantisch.“

Ein Witz, gewiss, doch es wird noch besser: Wolfgang Voigt verdient sein Geld mit einer Musik, die komplett aus dem Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit verschwunden ist, einer Musik, die als Rock ’n’ Roll der Neunziger ausgiebige Runden durch die Mainstream-Medien machte, um kurz darauf in eine stocksolide, über Jahre gewachsene Subkultur zurückzukehren. Wolfgang Voigt, um den Witz zu Ende zu erzählen, verdient sein Geld mit Technoschallplatten, vermeintlich toter Musik auf einem noch toteren Medium. Und da der Witz gut ist, mindestens so gut wie die Geschäfte laufen, schaut Voigt beim Lachen kurz auf seine goldene, brillantenbesetzte Uhr. „Alles ist rosig“, wird er später sagen, „das Einzige was fehlt, ist Zeit.“

So redet er einfach schneller, mehr Inhalt pro Minute: „Unsere Politik ist eine Politik der kurzen Wege“ sagt er, und: „Am Ende entscheidet immer noch unser Freund, der Konsument.“ Je schneller er vom Geschäft redet, desto mehr verschwimmt dabei das Bild vom Künstler Voigt, der noch vor acht Jahren als Mike Ink und frisch gebackener Jahrespoll-Sieger vom Spex-Cover herunter lächelte, hornbebrillt und schwer entrückt. Der unter dem Projektnamen Gas Richard Wagner in den Technokontext zitierte, seine Platten „Zauberberg“ nannte und in Interviews gerne vom Mythos des deutschen Waldes fabulierte. Wolfgang Voigt 2004 ist sonnenstudiobraun, trägt weiß und fährt sich immer wieder durch die frisch blondierten Haare, während er in breitem kölschem Tonfall von „Wertschöpfungsketten“ und „sukzessiven Wachstum“ redet. Der Mann, für den einst der Begriff „Diskurs-Techno“ erfunden wurde, weiß heute, dass Techno alles braucht, nur keinen Diskurs. „Ich“, sagt er, „habe irgendwann Ende der Neunziger, als ich keine Lust mehr hatte, dumme Fragen zu meiner Musik zu beantworten, gemerkt, dass ich mit der gleichen kreativen Leidenschaft Buchhaltung betreiben kann.“

Jetzt, da kaum noch jemand dumme Fragen stellt, ist aus dem Mythos des deutschen Waldes längst der Mythos des deutschen Mittelstands geworden, aus der Poesie Parzivals die Poesie der Buchhaltung. Und, so verrückt es klingen mag: in einer Branche, in der es von cowboyhuttragenden Puffgängern nur so wimmelt, scheint ausgerechnet der Soundtrack zur allgemeinen Verpeiltheit, zum Druff- und Ganz-weit-draußen-Sein, scheint ausgerechnet Techno, die Grundlage für die solidesten Kalkulationen zu bieten. In einem kleineren Rahmen zwar, aber gerade deswegen: solide.

„Wir gehen vernünftig mit dem Erfolg um, weil wir vernünftige Jungs sind“, sagt Voigt einen seiner glasklaren Voigt-Kalender-Sprüche auf, holt einmal kurz Luft und setzt dann an, alle Fragen auf einmal zu klären. So schwer es sein mag, seinem Tempo zu folgen: Gegen Ende des Monologs wird man eine Ahnung davon haben, weshalb es mit der Auferstehung der Musikindustrie nichts werden wird, wieso Techno daran schuld ist und nicht zuletzt warum Techno mit etwas Glück die jugendkulturelle Antwort auf Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplott“ sein könnte – der zeitlose Soundtrack zum Steinaltwerden. Voigt nimmt einen Schluck Wasser, schaut noch mal auf die Uhr, dann kann es los gehen.

Punkt eins: „Die reine Sprache der Musik, die textlos, kommentarlos und im Übrigen meist ohne Presse funktioniert, ist nach wie vor die große Geheimsprache im Techno. Auf der ganzen Welt gibt es eine Menge Leute, die diese Sprache sehr gut sprechen, und eine Menge Leute die diese Sprache sehr gut verstehen.“ Punkt zwei: „Auch die Kaufkraft ist da, man muss sie nur generieren. Wenn 30 Leute an einer Platte rumschrauben, die sich am Ende 6.000-mal verkauft, ist es kein Wunder, dass man Pleite geht. Wenn drei Leute an der gleichen Platte rumschrauben, ist es kein Wunder, dass man schwarze Zahlen schreibt.“ Punkt drei, das Tempo wird weiter verschärft: „Im Techno gilt noch immer das Gesetz des Marktes. Wenn die musikalische Botschaft überzeugend ist, kann eine unbeschriftete Platte aus dem Stand ausverkauft sein. Wenn die Botschaft nicht überzeugend ist, kann eine Platte von der Presse totgequatscht werden und trotzdem kauft sie kein Schwein.“

Wolfgang Voigt ist jetzt drin, mitten in den betriebswirtschaftlichen Vorbemerkungen zum großen musikgeschichtsphilosophischen Wurf. Wie der hochmotivierte Pressesprecher eines Bremer Pfefferkontors betet er das Einmaleins eines Branchenzweigs runter, den man sich als Paralleluniversum vorstellen muss, als Businessnische, die prima ohne die Strukturen der defizitären Großindustrie klar kommt. Voigt, dessen Firma bis vor kurzem berühmt dafür war, grundsätzlich keine Promos zu versenden und jedem Hype konsequent aus dem Weg zugehen, weiß natürlich genau, dass es nicht allein die Musik ist, die für die internationale Strahlkraft des Namen Kompakt sorgt.

Er weiß, dass sich eine beschriftete Kompakt-Platte im Zweifel besser verkauft als eine unbeschriftete. Die deutschen Namen – Voigt selbst produziert momentan als Wassermann und gibt seinen Tracks Titel wie „Hieb“ oder „Fuchsbau“ – sowie das klare, puristische Design, lassen Kompakt gerade im Ausland zur beliebten Projektionsfläche werden.

Während amerikanische Fans im Internet diskutieren, ob es wahr sein könne, dass Wolfgang Voigt grundsätzlich nur in Deutschland Urlaub mache, vergleichen andere, gleich aufs Ganze gehend, die Kölner Technoschmiede mit dem Bauhaus in Dessau. Voigt selbst schlägt als Vergleichswert lachend die Rosenthaler Porzellanmanufaktur vor. Auch ein Klassiker, aber: immer noch im Geschäft.

„Im Ernst“, sagt er, und lacht jetzt nicht mehr, „wenn wir im Ausland als die deutscheste aller deutschen Plattenfirmen gelten, so nehmen wir das als Kompliment. Wir wissen doch, dass gerade im elektronischen Bereich alle, die international Erfolg hatten, von Kraftwerk und den Neubauten bis zu DAF einen genuin deutschen Touch haben.“ Nicht, dass er Kompakt mit Kraftwerk oder DAF vergleichen wollte, Projekten aus längst vergangenen Zeiten, in denen Techno noch der Name eines österreichischer Sanitärbedarfsfabrikanten war, Zeiten, in denen das nächste große Ding immer schon vor der Tür stand. Das alles sei vor dem Urknall gewesen, vor Techno und – man kann es ja wenigstens behaupten – vor dem Anfang vom Ende der Musikindustrie.

Wolfgang Voigt, der Turnvater Jahn des 4/4-Takts, schaut ein letztes Mal auf die Uhr und biegt in die Schlussgerade. „Das nächste große Ding, von dem die Industrie gelebt hat, findet nicht statt“, sagt er. „Es kann nicht mehr stattfinden: Bis Techno hat sich ein Trend nach dem nächsten die Klinke in die Hand gegeben. Nach Punk kam New Wave, nach New Wave Zitat Pop, nach Zitat Pop eine Menge Mist. Dann kam Techno. Und das war es dann, das Ende der Popgeschichtsschreibung, das Ende des Hypemechanismus. Wenn es hochkommt, reicht es heute noch für eine 3-Wochen-Aufregung, und das auch nur, wenn bei Franz Ferdinand die Frisur gerade richtig sitzt.“

Es sei einfach zu viel gewesen, sagt er, zu viel Beschleunigung, zu viel Energie, zu viel auf einmal. Und jetzt? Sitzt er im obersten Stock seines Hauses und verwaltet das Zuviel. Schraubt hier, tuned da und versichert einem, dass das Geheimnis von Techno auf immer unkaputtbar bleibe. Zu viel ist das Gegenteil von zu wenig. Zu viel heißt genug für alle. Auch deshalb zeigt der rote Pfeil hinter Voigt nach oben.

Das Beste daran: „Dass man mit Techno in Würde altern darf“, sagt er und drosselt zum ersten Mal sein Tempo. „Dass man eine Jugendkultur leben kann, ohne in die Falle der Vorgängergenerationen zu tappen, die sich immer noch fragen, wann Keith Richards die Gitarre an den Nagel hängt. Niemand, der Techno begriffen hat, würde mich so etwas fragen. Wie wir es hier, unter einem Dach praktizieren, ist Techno eine gelebte, vier Generationen übergreifende Kultur.“ Dann ist Schluss, Frankreich ist am Telefon, und Polen wartet schon.

Gerade bei Kompakt erschienen: Superpitcher, „Here Comes Love“