Familiengrab mit Aussicht

Eine schrecklich „heile Patchworkfamilie“: Wie Joachim Bessing und Alexa Hennig von Lange vergeblich versuchten, mit einem Myhos aufzuräumen, von dem niemand gehört haben will

VON KOLJA MENSING

Das hier ist privat. Der Schriftsteller Joachim Bessing, der als Herausgeber von „Tristesse Royale“ bekannt wurde, hat im März 2002 die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange geheiratet. Seine Frau brachte ihre Tochter Mia Louise mit in die Ehe, und wenig später bekamen die beiden den gemeinsamen Sohn Pontus. Joachim Bessing und Alexa Hennig von Lange leben in Prenzlauer Berg, also in einer der gut 600.000 Patchworkfamilien, die es in Deutschland gibt. Weil dass nicht immer einfach ist, hat Joachim Bessing einen langen Essay unter dem Titel „Rettet die Familie!“ geschrieben, in dem er mit dem „Mythos der heilen Patchworkfamilie“ aufräumen möchte. Jetzt hat er ihn in Britta Gansebohms Literarischen Salon im Podewil vorgestellt. Seite an Seite mit seiner Frau.

Alexa Hennig von Lange hat sich dankenswerterweise dafür entschieden, das Projekt tatkräftig zu unterstützen. Also darf sie als Erste ans Mikrofon, um „als Einstieg zum Thema meines Mannes“ einen Auszug aus ihrem noch unveröffentlichten Roman „Mira“ zu lesen. Auf den ersten Blick bildet der Text die Lebenssituation ihrer eigenen Tochter ab: Mira ist ein kleines Mädchen, das mit ihrem kleinen Bruder bei ihrer Mutter und deren neuem Mann lebt, die Wochenenden allerdings bei ihrem Vater verbringt, und, nein, Spaß macht das nicht. „Jetzt kommt mein Mann“, sagt Alexa Hennig von Lange ohne jede Ironie, und zieht sich demütig zurück, bis sie später mit der schönen Frage „Und wie sehen SIE das als Mutter?“ wieder aufs Podium geholt wird. So weit zur – eher traditionellen – Rollenverteilung an diesem Abend: Sie ist „die Betroffene“ und „die Mutter“, er dagegen gibt den distanzierten Gesellschaftskritiker. „Ich muss das ja nicht alles aus meinem Leben heraus motivieren“, sagt Joachim Bessing. Das hier ist nämlich nicht nur privat, das ist auch politisch.

„Eine Provokation“, lautet der Untertitel des Buches, das allerdings erst einmal eine Bestandsaufnahme ist. Bessing unternimmt einen schnellen und etwas oberflächlichen Streifzug durch die Geschichte der Familie und widmet sich dann den großen familiensoziologischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts: dem Zweiten Weltkrieg („Trümmerfrauen und Männermangel“) und natürlich „Achtundsechzig“. An diesem Punkt soll erwartungsgemäß die Provokation einsetzen. Die Sechziger- und Siebzierjahre haben durch ihre Experimente mit neuen Lebensformen laut Bessing für „familiäre Beliebigkeit“ gesorgt und den Weg für das neuerdings boomende Modell bereitet: „Die Patchworkfamilie sieht sich einem antiautoritären Kräftefeld bestehend aus Elternteilen, Medien, Gesellschaft und Familienpolitik ausgesetzt“, beklagt sich Bessing, Jahrgang 71, und stößt sich daran, dass diese zusammengeflickten Familien in der Öffentlichkeit schöngeredet werden. So richtig kann er allerdings auch auf Nachfrage nicht erklären, wer das denn eigentlich überhaupt noch macht: „Es gab 1996 eine Titelgeschichte im Stern“, auch an eine Focus-Story kann er sich erinnern. Das ist etwas dürftig. Offenbar wird in „Rettet die Familie!“ mit einem Mythos „aufgeräumt“, an den eigentlich ohnehin niemand glaubt.

„Und wie sehen SIE das als Mutter?“ – Alexa Hennig von Lange findet Patchworkfamilien auch nicht einfach, aber weil sie eine gute Mutter ist, sucht sie die Schuld bei sich selbst. Damit wird es wieder ganz privat im Podewil, und wenn man sich auch manchesmal gewünscht hat, etwas mehr über das Leben eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin zu erfahren, so ist man nach diesem zunehmend peinlichen Abend doch gründlich bedient. „Ich war Anfang zwanzig“, arbeitet Alexa Hennig von Lange sich langsam zur Schmerzgrenze vor, „und wollte eine Familie, aber keinen Mann. Also dachte ich, ich fange mit dem Kind an, der Mann kommt dann später.“ Ermuntert durch die Berichte über Madonna, die damals gerade mit Hilfe ihres Fitness-Trainers schwanger geworden war, wurde sie also Mutter, mehr oder weniger ohne Vater. „Ich hatte ja einen Beruf und konnte für mich selbst sorgen.“ Selbst die Freunde im Publikum senken mittlerweile beschämt die Köpfe, aber es geht noch weiter. Die genauen Umstände der Zeugung lässt Alexa Hennig von Lange zwar aus, aber eins ist klar: „Heute hätte ich mich anders entschieden“, sagt sie, ganz die reumütige Sünderin, die weiß, dass aus „den vielen Freiheiten, die wir haben, Notsituationen entstehen können“ und dass ein Kind eine richtige Familie braucht und nicht zwei oder eineinhalb.

Brav! Ihr Mann lauscht dieser öffentlichen Beichte mit großmütigem Lächeln: „Ich habe selbst sehr viel größere Fehler in meinem Leben gemacht“, gibt er sich gönnerhaft und nimmt dann dankbar die Steilvorlage auf. Joachim Bessing meint nämlich nicht nur, dass ein Kind richtige Eltern braucht, sondern dass es überhaupt „besser ist, am Ende seiner Tage eine Familie gehabt zu haben“.

Auch hier sucht man vergebens nach einer Provokation. Die Bessing’sche Mischung aus gefühlten Überzeugungen, einfältigem Möchtegernkonservatismus und postmodernen Verlustängsten fügt sich einfach nur nahtlos in einen breiten bürgerlichen Notstandskonsens. „Wenn eine Regierung die Rentenbeiträge, die eingezahlt wurden, nicht wieder auszahlen will“, sagt Joachim Bessing, ohne dass ihm im Podewil jemand widerspricht, „dann wird die Familie zum Wagenburgmodell.“

Alexa Hennig von Lange und Joachim Bessing sind als wehrhaftes Autorenduo an vorderster Front dabei, wenn es gilt, die Familie gegen das unsichtbare Heer von Feinden zu verteidigen. Mit Beichten und Büchern – und zur Not bis in den Tod. Als ihnen im Vorgespräch zu ihrer kirchlichen Hochzeit in Prenzlauer Berg von der Pastorin angeboten wurde, einige weniger zeitgemäße Formeln aus dem Zeremoniell zu streichen, haben sie sich einmütig dagegen ausgesprochen: „… bis dass der Tod uns scheidet“, auf diesen Satz haben sie bestanden, erklären sie zum Abschluss und halten demonstrativ ihre funkelnden Eheringe ins Scheinwerferlicht. Diese Familie muss man nicht mehr retten.