Prickelnde Laune der Natur

Aus einem Herstellungsfehler entstanden, brachte es der Schaumwein im 17. Jahrhundert zum Statussymbol und schließlich sogar zum Arzneimittel. Eine Geschichte, die Mut macht in Krisenzeiten

VON MATHIAS BECKER

Am kommenden Donnerstag heißen wir ein Jahr willkommen, dessen Ruf schon ruiniert ist, bevor es angefangen hat. Wirtschaftlich jedenfalls. Dass deshalb weniger Sekt- und Champagnerkorken krachen werden in der Silvesternacht, ist nicht zu vermuten. Bis Oktober 2008 verzeichnete der Verband Deutscher Sektkellereien ein Absatzplus von rund sieben Prozent.

Alkohol gilt als krisensicher, und gerade den Schaumwein umschwirrt ein widersprüchlicher Mythos. Mit keinem anderen Getränk begießt man so stilvoll seine Erfolge, in keinem ertränkt man so elegant seine Sorgen. Egal, warum man sie in der Hand hält: Die Sektflöte suggeriert Souveränität. Coco Chanel hat diese Doppelrolle charmant auf den Punkt gebracht: Champagner, so die Modeschöpferin, trinke sie nur zu zwei Gelegenheiten: Wenn sie verliebt sei – und wenn nicht.

Das Getränk selbst erzählt eine Geschichte, in der Schicksal und Chance eng miteinander verwoben sind. Bevor er zum Statussymbol wurde, war der prickelnde Wein eine Katastrophe für die Winzer in der Champagne. Für ein Weinbaugebiet herrscht hier in der kalten Jahreszeit ein ziemlich raues Klima – rau genug jedenfalls, um die Hefe, die den Traubenmost zum Wein vergären soll, in den Winterschlaf zu versetzen. Im Frühling – der Wein war bereits abgefüllt – setzte der Pilz seine Tätigkeit fort, und die Holzstopfen ploppten reihenweise aus den Flaschenhälsen. Als man sie durch fester sitzende Korken ersetzte, explodierten die Flaschen. Was nicht zu Bruch ging, wurde als bedingt genießbar eingestuft. Der Wein aus der Champagne war ein echtes Teufelszeug.

Doch Mitte des 17. Jahrhunderts fand die Londoner Oberklasse Gefallen an dem Gaumenkitzel. Der Wein wurde in dickwandigere Flaschen gefüllt. Kräftigere Korken hielten der Gärung stand und sorgten dafür, dass das hierbei entstandene Kohlendioxid im Wein blieb – so wie im Sprudel. Um das Schäumen, das „Moussieren“, zu forcieren, setzten die Londoner Kellermeister vorher noch Zucker zu. Mehr als ein Naserümpfen der Winzer ernteten die Insulaner dafür vorerst nicht.

Doch das Getränk war erfolgreich und so begannen auch die Winzer in der Champagne, an seiner Verfeinerung zu arbeiten. Per Hand wurden die Flaschen auf dem Kopf stehend „gerüttelt“, bis die Resthefe unter den Korken rutschte und man sie – unter Verlusten – entfernen konnte. Ein Eisbad schuf Abhilfe: Im gefrorenen Zustand konnte man den Hefepfropfen problemlos entnehmen.

Der Verlust wurde mit einer Mischung von Weinen, zum Teil mit Zucker versetzt, aufgefüllt. Bis heute ist diese „Dosage“ das Geheimnis eines jeden Champagners. Ohne die Hefe leuchtete der trübe Saft goldgelb – und überschwemmte die Welt der Reichen und Schönen. Ein Grund dafür waren die immer sorgfältiger zusammengestellten „Cuvées“, Mischungen aus soliden Grundweinen. Ein weiterer war die Exklusivität des Endprodukts: Kleine, familienbetriebene Weingüter sowie hohe Transport- und Herstellungskosten machten den Champagner zu einer sündhaft teuren Angelegenheit.

Dass sich ausgerechnet dort, wo die Reben für das festlichste aller Getränke wuchsen, das große Schlachten des vergangenen Jahrhunderts abspielen sollte, mag man als Ironie der Geschichte verstehen. Nach dem Ersten Weltkrieg jedenfalls glich die Champagne einer Mondlandschaft. Der Vertrag von Versailles regelte, dass sich künftig nur „Champagner“ nennen dürfe, was in der Champagne gewachsen, gepresst und in Flaschen gegoren sei. Kein Fremder sollte Profit aus dem Namen dieser Region ziehen, für die man mit so viel Blut bezahlt hatte.

In Deutschland trägt der schäumende Wein seither den Namen „Sekt“. Selten ist er in der Flasche gegoren und noch seltener „handgerüttelt“. Zumeist fermentiert er in Stahltanks. Anschließend wird die Hefe gefiltert. Die industrielle Herstellungsweise ist nicht unbedingt minderwertig, allerdings wird im Zuge der Ökonomisierung mitunter bei den Cuvées gespart. Der Durst der Deutschen auf heimischen Sekt ist dennoch kaum zu stillen: Acht von zehn verkauften Flaschen stammen aus Produktionsstätten im Inland. 2007 waren es 413 Millionen, Tendenz steigend.

Aus den Magnumflaschen, die Formel-1-Piloten auf dem Siegerpodest köpfen, sprudelt natürlich nach wie vor Champagner. Symbol für das kommende Jahr hingegen dürfte eher der Piccolo werden: Die Miniflasche wurde für den Vertrieb durch Apotheken erfunden – ihr Inhalt galt als Medizin.