Die Mehrdeutigkeit der Götterzeichen

Schriften zu Zeitschriften: Die aktuelle Ausgabe der „Neuen Rundschau“ widmet sich mit gediegener Kulturessayistik den „Facetten des Heiligen“

Als vor nicht allzu langer Zeit das Jahrzehnt des Gehirns, das Jahrhundert der Genomik ausgerufen wurde, wer hätte da gedacht, dass es nur wenig später eher religionswissenschaftliche Probleme sein würden, die sich auf der Tagesordnung akademischer und feuilletonistischer Debatten wiederfinden? Auch die aktuelle Ausgabe der Neuen Rundschau – im letzten Jahr noch mit „Maschinenwelten“ und „Bildkompetenzen“ beschäftigt – widmet sich einem Thema, das man vor kurzem noch als gediegene Kulturessayistik verbucht hätte: den „Facetten des Heiligen“.

In archaischen wie in jenen an die Moderne angeschlossenen Gesellschaften finden sich dunkle Räume des Heiligen, so behauptet Karl-Heinz Kohl mit dem vergleichenden Blick des Ethnologen, doch es sind „Kulthöhlen verschiedener Art“. Kohl entwirft so etwas wie ein Phasenmodell für die Geschichte heiliger Artefakte. Als Beispiel dient ihm die soziale Lebensgeschichte der Tjurungas – äußerlich eher unscheinbare Steine und Hölzer, die den Ureinwohnern Australiens als Verkörperungen ihrer mythischen Ahnen galten. Sie wurden von europäischen Ethnologen aus Unkenntnis ihrer Bedeutung zunächst ignoriert, dann als wertvolle Kuriosität gesammelt. In öffentlichen Museen bekamen sie dann wieder so etwas wie Heiligenstatus – als vermeintliche Zeugnisse eigener Steinzeitkultur, deren Widerschein man in den Artefakten der Aborigines zu finden glaubte. „Heilig“ wurden sie also auch hier durch die Herstellung von Präsenz – eine strukturelle Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Funktion der Tjurungas, auf die Kohl leider nicht eingeht. Diese Umwidmung ist ein Beispiel dafür, wie bei der Überschreitung von Kulturgrenzen der Heiligenstatus oder zumindest die auratische Qualität transformiert und somit erhalten bleiben kann kann. Leider findet sich auch unter den anderen Autoren des Bandes niemand, der sich an die Unterscheidung von Heiligem und Auratischem wagt.

Denn wenn es um die Herstellung des Heiligen geht, finden fast immer auch die Techniken des Auratischen Anwendung. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bisher kaum Versuche zur Entwicklung einer technischen Geschichte der Religionen gab. Zu diesen Techniken gehören hybridmediale Strategien der Aktualisierung von Überwältigungsszenarien – singende Statuen, Feuerwerkszauber, selbstbewegende Puppen. Doch eben die These, die Macho einer solchen Technik- und Mediengeschichte der Religionen mit auf den Weg geben will, dass nämlich die Wahrnehmung des Heiligen sich heute von den religiösen Inhalten verabschiedet hat, bleibt konturlos ohne die exakte Bestimmung dessen, was heilig ist und was bloß auratisch.

Die Unterscheidung von sakraler und theatraler Magie jedenfalls ist noch sehr jung, und bevor sich diese Differenzierung in der späten Moderne durchsetzen konnte, war es nicht als „Entzauberung“ empfunden worden, wenn die Konstruktivität der Inszenierungen erkannt wurde – Hans Peter Duerr etwa berichtete von seiner Teilnahme am heiligsten Ritual der Cheyenne-Indianer, dem Sonnentanz. Ein Priester rief dem Sun Dance Priest die wenig heiligen und dennoch nicht ritual-schädigenden Worte zu: „Verbrenn dir nicht die Eier, alter Mann!“

Paradoxien dieser Art scheinen das Heilige nicht nur nicht zu beschädigen, sie liegen oft schon an dessen Ursprung. In seinem Beitrag „Götterzeichen und Gründungsverbrechen“ zeigt Albrecht Koschorke, dass Gründungsmythen, die zur Legitimation von Staats- und Rechtsordnungen den Anschluss an das Religiöse suchen, meist absichtsvoll ins Leere laufen. Die Götterzeichen führen nicht zu einer belastbaren systemexternen Validierung des politischen Systems. Sie verdoppeln vielmehr die Arbitrarität, weil sie mehrdeutig sind und ihr göttlicher Ursprung schon im erzählenden Mythos selbst angezweifelt wird. Die Überlagerung von Legitimität spendenden und entziehenden Elementen, so Koschorke, lasse sich wohl in vielen Ursprungsmythen finden.

Wie solche Anfangserzählungen für christliche oder islamische Gottesstaaten konstruiert sind, hätte man gerne gewusst – der Streit von Romulus und Remus um die Benennung Roms ist ein arg dankbares Beispiel. Gerade hier hätte man sich mehr Exaktheit und mehr Aktualität gewünscht. So bleibt – neben J. M. Coetzees schöner Vorlesung zur Nobelpreis-Verleihung und Stephan Wackwitz’ Traumbericht von der stalinistisch-volkspolnischen Musterstadt Nowa Huta – eben doch nicht viel mehr als gediegene Kulturessayistik.

SEBASTIAN HANDKE

„Neue Rundschau“, Heft 1/2004: „Facetten des Heiligen“. Hrsg. von Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong und Helmut Mayer. Fischer Taschenbuch Verlag, 190 Seiten, 9 €