Oktoberfest mit Mutter Maria

Es ist, als hätte eine multinationale Streitmacht einen Krieg gewonnen, und jetzt wird gefeiert

aus Lourdes STEFAN KUZMANY

Wahnsinn, sie sprinten! Sind schon Teufelskerle, diese Italiener. Die langen schwarzen Federbüsche ihrer Uniformhüte wippen im Takt ihres Laufschritts, im Takt ihrer Trompetenstöße, die klingen etwas abgehackt zwar, aber ihre Fans stört das nicht.

„I-ta-li-a! I-ta-li-a!“, skandieren die zahlreich mitgereisten Landsleute. Eine beachtliche, eine großartige körperliche Leistung. Diesen Wettstreit der Militärkapellen haben die Italiener gewonnen, kein Zweifel, da können die anderen machen, was sie wollen, die Iren mit ihren Dudelsäcken, die Franzosen, die sich statt stampfender Militärmusik ein swingendes Dixiestück ausgesucht haben, chancenlos gegen die Dominanz der Italiener auch die Deutschen mit ihrem wacker geblasenen Marsch.

Und wer kommt jetzt? Wer ist das jetzt? Die Lautsprecherdurchsage ist untergegangen im Jubel der über 12.000 Anwesenden. Wer kann schon aus der Ferne alle Uniformen erkennen?

Woher kommt denn diese Kapelle?, fragt eine kleine blonde Frau Mitte vierzig den französischen Gendarmen, der da gerade das Absperrgitter bewacht, und sie scheint etwas verwirrt von seiner Antwort: „kurdisch“, sagt sie, „kurdisch“ habe der Gendarm gesagt, na egal, sie wippt schon wieder mit im Takt der Marschmusik.

Kurdisch, das kann ja wohl nicht sein, „l’Autriche“ hat der Gendarm wohl eher gesagt, Österreich, das passt viel besser ins Bild, schließlich befinden wir uns hier auf einer zutiefst christlichen Veranstaltung – in Lourdes, auf der internationalen Begrüßungsfeier zur 45. Internationalen Soldatenwallfahrt in der Basilika Pius X., eingeweiht 1958, 200 Meter lang, 80 breit, sechs Eingänge, Spannbetontechnik, Tiefgarage für Gläubige.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatten französische und deutsche Militärseelsorger die Idee gehabt, ihre Soldaten über die gemeinsame katholische Religion zu versöhnen. Seither ist die Anzahl der teilnehmenden Nationen gestiegen, mitreisende Soldaten werden es allerdings seit einigen Jahren immer weniger. „Wir dachten zunächst, das Interesse am Glauben wäre zurückgegangen.“, sagt Michael Weihmayer, Militärdekan am Katholischen Militärbischofsamt in Berlin. Aber dann habe sich eine andere Erklärung gefunden: „Weltweit reduzieren die Armeen ihr Personal, also gibt es proportional auch weniger gläubige Soldaten.“

Weihmayer, 47, ein hochgewachsener Bayer mit Vollbart und Brille, dunkel gekleidet, das weiße Beffchen am Kragen, war schon so oft hier, er kann in Lourdes kaum zwanzig Schritte machen, ohne Bekannte zu treffen. Schnell, zielsicher schreitet er voran durch den heiligen Bezirk um die Grotte, Rauchen verboten, keine Mobiltelefone, schreitet durch die Menschenmenge, Soldaten aus aller christlichen Herren Länder, stolze Uniformträger mit Säbeln, mit bunten Hüten, mit Röcken, Geistliche, auch sie zum Teil bunt gewandet, mit großen Kreuzen um den Hals und Schärpen um den Bauch, Militärs und Kleriker, würdig oder lächerlich operettenhaft, je nach dem, wie man sie sehen will. Und Kranke, Alte, Legionen von Gebrechlichen, manche geschoben im Rollstuhl, andere gezogen in einer Art Liege-Rikscha, auf ihrem Weg zur Grotte, zur Quelle, versunken ins Gebet, in die Hoffnung auf eine wundersame Heilung durch ihren Glauben.

Glaubt er, Weihmayer, früher Militärseelsorger, heute im Referat Personal und Organisation, dass in Lourdes tatsächlich Maria, die Mutter Gottes, erschienen ist? Weihmayer holt aus, spricht von Eugen Drewermann und von dessen tiefenpsychologischer Interpretation, von Wald, Grotte, Quelle als Symbolen der Reinheit, des Ursprungs und der Geburt, von der schwierigen Situation der frommen Bernadette, Asthmatikerin, ohne Ausbildung und Zukunft, die da ein Idealbild gesehen habe, das, was sie sich so sehr wünschte, das Gesunde, Schöne, Reine. Die da eine Tröstung, eine Stärkung, eine Heilung erfahren habe. „Ja“, sagt Michael Weihmayer, „ich glaube, dass dieses Mädchen eine Frau gesehen hat, die wir mit Recht als Maria bezeichnen können.“

Inzwischen hat es angefangen zu regnen, ganz plötzlich, wie es oft passiert hier am Rande der Pyrenäen, ein Platzregen, doch Weihmayer will noch nicht zurück ins Hotel, will noch schnell das Verlies zeigen, die Behausung der Familie von Bernadette Soubirous, nachdem der Vater, verdächtigt, ein Dieb zu sein, seine Arbeit verloren hatte. Dort lacht die Aufseherin, eine kleine französische Nonne um die fünfzig, als sie die bereits völlig durchnässten Besucher sieht.

„L’eau de Lourdes ne fait pas mal“, sagt sie, „das Wasser von Lourdes schadet nicht“, und dann bietet sie den Durchnässten Kappen an, die liegen geblieben sind von anderen Pilgern. Das Wasser von Lourdes ist höchst begehrt. Man hat einen Wasserspeicher gebaut, damit immer genügend da ist für die bis zu 40.000 Gläubigen täglich. Aus Wasserhähnen zapfen sie es ab in Behälter jeder Größe und Form. Kanister gibt es, die sehen aus wie solche für destilliertes Wasser zum Bügeln, beliebt auch Maria in Plastik, mit blauem Band, wie Bernadette sie gesehen hat, als Wasserbehälter mit blauer Krone zum Abschrauben und Befüllen.

Es ist Sonntag. Gerade hält der katholische Militärbischof von Deutschland, Walter Mixa, einen Gottesdienst an der Grotte von Lourdes, und obwohl hier Schilder stehen, die eine Nonne zeigen, mit dem rechten Zeigefinger den Mund versiegelt, ist es nicht ganz leicht, ihm zu folgen, so unruhig ist die Menschenmenge. Mehrere hundert alte und kranke Menschen warten, bis der Deutsche endlich fertig gepredigt hat, bis das Absperrgitter wieder geöffnet wird, sodass sie zur Grotte können. So voll ist es hier, es kann schon passieren, dass einem ein Rollstuhl über die Füße fährt.

Bischof Mixa, 62, ist ein freundlicher Mann mit leuchtend weißem Haar und ausdrucksstarken Augen, der gerne viel und salbungsvoll redet, er sagt zum Beispiel nicht, dass er „bewegt“ sei von dem Erlebnis des Kreuzwegs heute Morgen, wo junge, gesunde Soldaten ihre kranken Kameraden getragen haben, Mixa sagt dann, er sei „ehrlich im Innersten bewegt“. Er spricht von den „berechtigten Friedensdemonstrationen“ gegen den Irakkrieg, die aber die Gräuel des Saddam-Regimes vergessen hätten, von vergessenen Kriegen in Afrika – und gleich darauf von 40 Millionen Abtreibungen jährlich weltweit.

Der Militärbischof ist bekannt für seine Unberechenbarkeit: Reden hält er stets spontan, Zeitpläne sind variabel. Und mit Vorschriften nimmt Mixa es auch nicht so genau: Vor zwei Jahren ist er vom mazedonischen Zoll mit Geldbündeln im Gepäck erwischt worden – „Mixa Bargeld“, wie danach gescherzt wurde, wollte seinem mazedonischen Amtskollegen unbürokratische Amtshilfe leisten und 400.000 Mark in Deutschland in Euro tauschen.

1.301 Deutsche sind diesmal nach Lourdes gereist, 12.953 Soldaten sind es insgesamt, und man muss es leider sagen: Die anderen sehen alle besser aus. Die Deutschen, gemäß Weisung gekleidet in den „Dienstanzug in der Grundform der jeweiligen Teilstreitkraft gemäß ZDv 37/10 Anzugordnung für die Soldaten der Bundeswehr“, sind lange nicht so bunt, so schneidig, so stolz wie ihre Kollegen. „Die Iren haben anscheinend bessere Stoffe, die Hemden werfen nicht so schnell Falten“, sagt Militärdekan Weihmayer fachmännisch.

Obwohl es den Soldaten untersagt ist, Abzeichen und Uniformteile zu tauschen, tut jeder genau das. Oben, im internationalen Soldatenzeltlager über der Stadt, gibt es viel Gelegenheit dazu, zwischen Feldgottesdiensten und Bierfesten, und auch unten in Lourdes, außerhalb des heiligen Bezirkes, wo die Bierkneipen die Namen von Heiligen tragen und in Erwartung der pilgernden Soldaten die Preise kräftig hochgeschraubt haben: vier Euro für ein Bier, ganz schön happig.

Abends geht es in Lourdes zu wie auf einer Art religiösem Oktoberfest, es fließt sehr viel Alkohol, die Italiener geben Platzkonzerte und bringen den Verkehr vollends zum Erliegen. Es ist, als hätte eine multinationale Streitmacht einen Krieg gewonnen, und jetzt wird gefeiert. Noch um drei Uhr nachts singen sie, trinken, selbst in direkter Hörweite des Accueil Marie Saint Frai, des Hospizes, in dem die Kranken untergebracht sind, herrscht keine Ruhe.

Das als mangelnden Respekt für die Kranken zu verstehen wäre vielleicht falsch: Hier steigt eine große Party, und die Kranken sollen mittendrin sein.

Halb vier Uhr nachts an der Wundergrotte von Lourdes. Noch immer sind vier, fünf Menschen hier und beten. Eine alte Frau kniet jetzt schon zwanzig Minuten vor dem Eingang der Grotte, rechts daneben, etwas abseits, kauert ein junger Mann, er bewegt sich nur, wenn er im Gebetbuch eine Seite umblättern muss. Die alte Frau geht in die Grotte, berührt den glatten Stein, Wassertropfen rinnen herab, sie lehnt sich in eine Kuhle, verharrt regungslos. Sie geht zur Quelle. Beleuchtet und hinter einer dicken Glasscheibe fließt das Wasser, das angeblich Heilung bringt. Die alte Frau, grauer Anorak, weiße Turnschuhe, bekreuzigt sich. Rückwärts, ohne der Grotte und der Marienstatue den Rücken zuzukehren, entfernt sie sich, weiter Gebete murmelnd.

Auf einer der Eisenbänke vor der Grotte sitzt ein deutscher Soldat in voller Montur. Er ist eingeschlafen. Friedlich mischt sich sein Schnarchen mit dem Gurgeln der Quelle und dem Plätschern des Gave de Pau, bis er selbst von seinem Schnarchen geweckt wird, etwas irritiert und ungläubig schaut, dann realisiert, wo er ist. Er steht auf und macht sich auf seinen Weg ins Feldbett, leicht schwankend.