Ein Essayist von sechzig Jahren

Die farbenfrohe Eminenz der Schlaufüchse: Hommage an Michael Rutschky aus Anlass seines morgigen Geburtstags

Best of R.

„Das Zitat erzeugt das Original“ (1993). „Zuviel Literatur“ (1978). „Schöner Reden“ (1982). „Der Ehrgeiz, nicht dazu zu gehören, ähnelt sehr stark dem Ehrgeiz, der Beste zu sein“ (1992). „Der Alltag“ (1992–1997). „Das Wetter; die Politik“ (1984). „Streber“ (2000). „Dem theoretischen Anspruch kommt er nur oberflächlich nach“ (Nef 1990).

„Die Meinungsfreude“ (1997). „Wissen Sie übrigens, wie ein Atomkraftwerk funktioniert?“ (1987). „Wer gerade Kritik übt, dem stehen die anderen natürlich nicht als Kollegen, sondern als die anderen Leute vor Augen“ (1984).

„Wir Essayisten“ (1990). „Alexander Kluge ist der Friedrich Schlegel der Neuen Linken“ (1978). „Das ist ein Kollege: Auch er muss immer wieder ans Fenster treten und auf die Straße schauen, ob sich nicht wenigstens draußen etwas ereignet“ (1986). „Der Kollege Wellershoff“ (1987). „Freud, einer unserer größten Kollegen“ (1984). „Der Dichter Max Goldt“ (1997). „Unsere Kleine Stadt“: „Sehr oft möchte man den Redakteursbleistift zücken und ganze Passagen streichen“ (2001). „Ich formuliere mit Absicht undeutlich, um hier den Klärungsprozess nicht zu behindern“ (1984). „Im elegantesten Alltag-Ton – wie es einen Spiegel-Ton gibt“ (Buselmeier 1995). „Marottifizierter Stil-Stillstand“ (Goetz 1999). „Michael-Rutschky-mäßig – ähm lass das alles aus“ (Palzer/Meinecke 1989). „Dass die Kolumne redaktionell für so gut wie unantastbar gilt, erklärt sich aus ihrer Namentlichkeit; man soll erkennbar ein und dieselbe Stimme regelmäßig wahrnehmen“ (2002). „Lob des Schemas“: „Unser Freund R., Systemtheoretiker“ (1994). „Weitere Aufgaben der Forschung“ (1990): „Die Intellektuellen als die anderen Leute der anderen Leute verstehen“ (1998).

„Alle Gedanken und Gegengedanken in diesem Text hier so zu verknüpfen, dass ein lückenloser Zusammenhang entsteht – das kann mir gar nicht gelingen, weil jeder Text einen solchen Zusammenhang nur insofern bildet, als er in einen weiteren hineingehört: Er verpflichtet dich, Sie und ja: auch mich zu neuerlichen Gegengaben“ (1987).

GEORG STANITZEK

Medienwissenschaftler, hielt die Laudatio, als Rutschky 1999 den Heinrich-Mann-Preis erhielt

Author’s Author

Seit 1972 erklärt mir Herr Rutschky nun die Welt, und ich bin ihm naturgemäß dankbar dafür. Was ich ohne seine messerscharfen Analysen, die er freundlich, aber bestimmt vorträgt, mittlerweile alles für Unsinn im Kopf hätte – nicht auszudenken!

Da ich mit Herrn Rutschky befreundet bin, habe ich gut reden und ist es keine Kunst, ihn über den grünen Klee zu loben. Doch was ist mit der deutschen Öffentlichkeit, der er seit einem Vierteljahrhundert in unzähligen, fast myriadenfachen Artikeln und Essays und Rundfunksendungen und Büchern und Fernsehfeatures in freundlicher, aber bestimmter Weise die Welt erklärt? Der schlicht meinungsfreudige, also größere Teil nimmt das ziemlich ungerührt hin: noch’n Gedicht. Der kleinere (und, unter uns, bessere) Teil („Wir“) indes spitzt die Ohren.

Denn die Kunst von Herrn Rutschky, der als Privatmann auch recht meinungsfreudig sein kann, besteht darin, dass er als Essayist eben nicht einfach seine Ansichten über Gott und die Welt vorträgt, sondern deren Entstehen beschreibt: Soziologische Feinmalerei hat er das selbst einmal genannt. Herr Rutschky ist das Gegenteil eines Leitartiklers. Er interessiert sich für die Welt, wie sie uns vor Augen kommt: auf der Straße, in Gesprächen, Zeitungen und Büchern, im Kino und im Fernsehen, und wie dann das Denken und Meinen und Kritisieren in Gang gerät.

Herr Rutschky ist mit anderen Worten in höchstem Maße weltoffen und selbstreflexiv, und seine geradezu kindliche Freude und Neugier daran, wie sich die Gedanken und Meinungen verfertigen, wie wir ticken – das beschreibt er anschaulich und mit Witz, ohne theoretisches Gehubere.

„Wir“: Das sind die Hardcore-Intellektuellen. Herr Rutschky ist ein author’s author, und deswegen macht es auch nichts, dass er nicht so berühmt ist wie – ach, egal. Und das erklärt auch, warum Herr Rutschky so unglaublich viele junge Autoren beeinflusst hat; und gefördert. Herr Rutschky ist nämlich ohne Neid, großzügig, hilfsbereit.

Wenn Sie nun denken, in einem Geburtstagsartikel würde gerne ein bisschen übertrieben, liegen Sie falsch: Ich glaube, dass Herr Rutschky nicht nur durch seine vielen Artikel (er selber bezeichnet sich als „gewissenhafter Vielschreiber“), sondern auch durch seine Mentorentätigkeit in den letzten zwanzig Jahren zum wichtigsten deutschen Essayisten geworden ist, die (farbenfrohe) Eminenz der Intellektuellen und Schlaufüchse.

Und prima Auto fahren kann er auch! (Aber kochen kann er nicht.) KURT SCHEEL

Herausgeber des „Merkur“

Gefundenes

„Wenn dieser Autor ein Popmusiker wäre, dann wäre er Ry Cooder.“ Nicht nur, weil ich, seit ich „Erfahrungshunger“ zum ersten Mal gelesen/„Into the purple valley“ zum ersten Mal gehört habe, wusste, dass ich alles von Michael Rutschky würde lesen und alles von Ry Cooder würde hören müssen. Sondern vor allem, weil beide, Rutschky und Cooder, bedeutende Künstler geworden sind, obwohl (nein: weil) sie auf das von der kunstreligiös-mythisch überhöhte Schöpfertum erster Ordnung bewusst verzichtet und sich der brillanten Bearbeitung von Gefundenem zugewandt haben. Insofern ist Ry Cooder der einzige Essayist der Popmusik. Und Michael Rutschky der einzige deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit, dessen Werk ganz aus Essays verschiedener Länge aufgebaut ist (die publizistische Gebrauchsliteratur und die Arbeiten fürs Fernsehen nicht zu vergessen, die Ry Cooders Filmmusiken entsprechen würden).

Den Büchner-Preis bekommt man dafür hierzulande leider nicht. Aber ich bin sicher, dass zukünftige Historiker die Geschichte der Bonner Republik, der Wende von 1989 und des Beginns der Berliner im Werk Michael Rutschkys so genau werden studieren können, wie man die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts im Werk Balzacs studiert.

Und so wie ich mein Leben in den letzten 25 Jahren als Rutschky-Leser rekonstruieren kann: das verhangene Stuttgarter Sommerwochenende in den Achtzigerjahren, als mir Bernd Fischle nach einem Frühstück in seinem WG-Zimmer mit dem Blick über den weiten Talkessel den „Erfahrungshunger“ auslieh und ich sozusagen nicht mehr aus dem Buch aufsah, bis ich es am Sonntagabend aushatte; der heiße Frankfurter Sommertag, den ich, die „Reise durch das Ungeschick“ im Drahtkorb meines Fahrrads hinter mir, an der Nidda zwischen Höchst und Bad Vilbel verbrachte, lesend, radelnd, in allerlei Wirtschaften einkehrend (eine Vision des Glücks: ein Buch und ein Sommertag, die nie aus sein sollten).

Zu seinem 60. Geburtstag ist uns allen zu wünschen, dass ein bedeutender deutscher Taschenbuch-Verlag das unnötig und eigentlich schandbar verstreute Gesamtwerk dieses Klassikers der deutschen Nachkriegsmoderne anständig ediert und neu herausbringt. Denn „How can you keep on moving, unless you migrate too?“ und „Taxes on the farmer feeds us all“. Oder wahrscheinlich gleich: „When Roosevelt came to the land of the hummingbird / Shouts of welcome were heard.“ STEPHAN WACKWITZ

Essayist. Zuletzt erschien der Familienroman „Ein unsichtbares Land“

Blitze schleudern

Als Michael Rutschky vor ein paar Jahren die Berlinale-Kolumne dieser Zeitung in seine Regie übernahm, lieferte er auch gleich das Foto zum jeweiligen Text. Denn Michael Rutschky ist nicht nur ein Mensch, der denkt und schreibt, sondern auch einer, der sieht und fotografiert. Und dazu ist er einer – und da würde das Marketing von Alleinstellungsmerkmal reden –, der macht, wovon nicht schon Walter Benjamin, sondern später auch Roland Barthes träumte: Er beschriftet seine Bilder, er ist der Autor als Produzent.

Damals also, bei seiner Berlinale-Kolumne, bestückte er seine klugen und süffisanten Anmerkungen zum Festivalbetrieb mit Bildern von Rügen. Der Insel, ja, die in der Ostsee liegt. Man sieht, ganz unkompliziert ist das Verhältnis von Bild und Text, das er schafft, keinesfalls. Um ehrlich zu sein, ich bin noch heute über dieses Sampling verblüfft. Freilich erspart es aufwändige Recherchen, um zu wissen, wie es damals um den Glamour der Filmfestspiele stand.

Nun könnte man einwenden, Glamour sei die Sache des Fotografen Rutschky eh nicht. Doch da bin ich mir nicht so sicher. Es ist wahr, dass er die private Perspektive bevorzugt, dass er weniger den Treffer als das Abseits sucht. Aber die lapidare Beiläufigkeit, mit der er seine Einstellungen im und zum Alltag findet, hat durchaus ihren eigenen, sanften Glanz. Dass der Alltag – wie auch die von ihm herausgegebene Zeitschrift hieß, die in den 80er-Jahren, als das jenseits der Magazinpresse noch nicht üblich war, Fotos großen Raum gab – bei ihm nicht klein ist, zeigt das Kompliment eines Kollegen. Für ihn ist Michael Rutschky der „Blitze schleudernde Dilettant“. (Eine Formulierung, die mich so neidisch machte, dass ich den Namen des Kollegen prompt verdrängt habe.)

BRIGITTE WERNEBURG

Alltagsregisseur

Das Angebot eines Beitrags für den Alltag hatte er ohne große Begründung abgelehnt. Es sei nichts für das nächste Heft, hatte er am Telefon gesagt, aber man könne sich ja mal treffen. Michael Rutschky muss Mitte der Achtzigerjahre dutzende solcher Termine im Kreuzberger Café Mora gehabt haben.

Die Zeitschrift Der Alltag war eine vierteljährlich erscheinende Textsammlung, aber vor allem war sie ein Versammlungsort unterschiedlicher Autorenergien. Als Redakteur steuerte Rutschky nicht auf ein monolithisches Endprodukt zu, vielmehr ließ er die Schreibimpulse von bisweilen sich eher diffus äußernden Temperamenten zur Entfaltung kommen. Der Alltag war die Bühne eines lose verbundenen Ensembles, das über gemeinsame Stichworte verfügte. Im Alltag geschrieben zu haben, erfüllt heute nicht wenige, na ja, mit dem Stolz, zum richtigen Zeitpunkt dabei gewesen zu sein. Der Regisseur Rutschky redigierte seine Autoren nicht im Sinne einer strengen Arbeit am Text, allenfalls bürstete er, wie er es nannte, ein paar Fusseln aus. Rutschky versammelte im Alltag weniger Texte als Autorenprojekte, wie unscharf sie sich auch immer gezeigt haben mochten. Zu den meisten Autoren, darunter viele Debütanten, unterhielt er distanziert persönliche Kontakte. In Gesprächen wie jenem im Café Mora erfuhren sie wohl wenig über die Qualität ihrer Texte, aber das meiste über das System, in dem sie entstehen.

Das Geheimnis der Rutschky-Schule, deren Existenz sich über einen Indizienprozess leicht beweisen ließe, ist das Fehlen eines Lehrplanes. Wenn es ihn gäbe, hätte eine der ersten Unterrichtseinheiten wohl darin bestehen können, am Ende nicht so zu schreiben wie Rutschky. Epigonen, hätte die Lektion überschrieben sein können, sind schlechte Schüler. Aber auch die Renegaten entkommen nicht zwangsläufig der Lehrmeinung. Ein anerkannter Autor, der sich früh von Rutschkys Einfluss gelöst zu haben glaubte, ließ sich kürzlich im Partygespräch zu einer Einschätzung über das gegenwärtige Feuilleton hinreißen. Aus dem älter gewordenen Jungliteraten sprach noch immer Michael Rutschky. Beide wären wohl ein wenig beschämt gewesen, wenn sie es bemerkt hätten.

HARRY NUTT

Feuilletonchef der „Frankfurter Rundschau“

Nacht in Berlin

Ich bin mit einem konservativ gesinnten Kollegen bekannt, der Herrn Rutschky nicht ausstehen kann. Bevor ich ihn dafür letztens körperlich züchtigte, hörte ich mir noch seine jämmerlichen Beweggründe an, das kann man ruhig mal machen. Es stellte sich heraus, dass ihm im Grunde die ganze Richtung nicht passt, dies Sozialdemokratische, der Optimismus, das Selbstbewusstsein, das „wird-schon-werden“. Nun, ich hatte eine Überraschung für ihn.

Wenn es Nacht wird in Berlin und die Schritte der Schlaflosen über das Kopfsteinpflaster hasten, dann erwacht nämlich hinter der Stirn des Sozialdemokraten Rutschky ein Mann mit finsteren Ahnungen, der mit von Angst und Schrecken kündet. Nicht nur von den letzten Tagen des Krieges, von den Nazis in Verwaltung und Politik, den tauben Jahren, die es dauerte, bis wieder so was wie Leben in die Bude kam – nein, Angst und Schrecken und Leid in einem ganz fundamentalen Sinn. Nicht so wie mein Kollege es gern hätte, so katholisch inspiriert, weil der Mensch gegen Gott kläglich abfiele; mehr so im Sinne Freuds: „Man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht erhalten.“

Wo der Sozialdemokrat Rutschky stete Verbesserungen unserer Lage sieht, blickt der „Tragiker“ Rutschky mit Verachtung auf eine Therapiegesellschaft, die dem Leiden, das nun einmal zu uns gehört, nur mit Verleugnung begegnen kann. Der Tragiker ist imstande, das Massaker von Erfurt für eine anthropologische Konstante zu halten, und der Sozialdemokrat verstummt in solchen Momenten. Aber wenn es Tag wird, wenn die Zeitungsburschen ihre Karren unter seinem Kreuzberger Fenster vorbeiziehen und die Nachbarn im Treppenhaus grüßen, dann erwacht der Sozialdemokrat, und weist den Tragiker – nicht zuletzt, weil seinesgleichen in Deutschland so oft schon auf der falschen Seite gestanden haben – in die Schranken.

Mein Kollege hat den Schlaflosen nie getroffen. Soll er doch zur Hölle fahren. Ich hebe mein Glas: auf beide Rutschkys.

MARIAM LAU

Autorin, zuletzt erschien „Harald Schmidt. Eine Biographie“