Befreiung vom richtigen Leben

Buchmessern II: Ob neu oder alt, ob Ost oder West – in Leipzig flammen Trends auf, wohin man schaut

Es war eine mittelschwere Sensation, die vor einer Woche der Germanist und Kritiker Michael Maar in der FAZ vorstellte: Vladimir Nabokovs „Lolita“ hat möglicherweise eine ältere Schwester. Diese stammt laut Maar von dem deutschen Schriftsteller Heinz von Lichberg (1891–1951), der 1916 eine 18-seitige Erzählung namens „Lolita“ veröffentlichte. So frappierend aber nun die Ähnlichkeiten der beiden Lolitas und ihrer literarischer Gene sein mögen, „diese Übereinstimmung von Handlungskern, Erzählperspektive und Namenswahl“, wie Maar schreibt, so sensationell dieser Fund gerade im Hinblick auf einen so begnadeten und passionierten Spurenleger und -verwischer wie Nabokov ist – auf der Buchmesse in Leipzig wird die doppelte Lolita nicht mal am Rande Thema sein.

Sicher dürften die Veranstalter jeder Buchmesse insgeheim davon träumen, auch einmal Literaturgeschichte zu schreiben oder in diese einzugehen. Der Charakter einer Messe ist jedoch ein anderer, er steht diesem Vorhaben eher im Weg: Geschäfte machen und Kontakte pflegen heißt es hier zum einen, Trends generieren oder ihnen wenigstens gerecht werden zum anderen. Meist sind diese nie so brandaktuell, wie mancher Literaturbetriebsmensch das gern hätte, sondern ein paar Jahre im Gang. Sie flammen dann neu auf oder liegen in letzten Zügen.

Auffallend, dass wie schon 2002 die DDR bei dieser Leipziger Buchmesse hoch in den Charts steht. Zumindest literarisch ist der Aufschwung Ost keine bloße Behauptung. So könnte Christoph Hein mit seinem bei Kritikern wie Publikum erstaunlich erfolgreichen Wenderoman „Landnahme“ das werden, was die auch in diesem Jahr dank ihres 75. Geburtstag allgegenwärtige Christa Wolf 2002 war: Messestar, gesamtdeutsche Integrationsfigur, Staatsschriftsteller.

Im Schatten von Hein jedoch regen sich viele jüngere AutorInnen, die meist lediglich ihre Kindheit in der DDR verbrachten und sie nun offensiv erinnern oder als Subtext in ihren Büchern mitlaufen lassen. Vor allem Autorinnen sind es, die sich mit ihren Debüts oder neuen Büchern in den klassischen Genres Erzählung und Roman bewegen, etwa Julia Schoch („Verabredungen mit Mattok“), Ariane Grundies („Schön sind immer die Anderen“), Angelika Klüssendorf („Aus allen Himmeln“) oder Franziska Gerstenberg („Wie viel Vögel“). Dagegen halten es die Herren journalistisch-feuilletonistisch und pflegen die Tradition der verquer-hintergründigen guten Laune der Berliner Lesebühnen: Peter Richter mit seinen „Blühenden Landschaften“, Michael Tetzlaff mit „Ostblöckchen“ und Carsten Otte mit „Schweineöde“. Martina Rellin, die als Herausgeberin von „Klar bin ich eine Ostfrau“ 15 Ostfrauen bezeichnenderweise aus dem „richtigen“ Leben erzählen lässt, bestätigt die Ausnahme von dieser aktuellen Geschlechtertrennungsregel – allerdings ist Rellin selbst im Westen groß geworden.

Dass das „richtige“ Leben im Westen gerade in den Achtzigerjahren keines war, sondern blass, öde, unspektakulär, davon konnte man sich in den vergangenen Jahren ein detailliertes Bild machen mit den vielen eindimensionalen Generationsbüchern und Gebrauchsanweisungen der Dreißig- bis Vierzigjährigen. Nun scheint es, als würde dieser Trend abflauen, um einem Gegentrend zu weichen: Man erinnert sich der Kindheit wieder in großformatigen, formal sehr unterschiedlich gearbeiteten Romanen, so wie Marcus Jensen und Gerhard Henschel. Und beschwört die Erinnerung nach Jean Paul als „das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können“, wie Arnold Thünker in seinem Debüt „Keiner wird bezahlen“. Während Jean Pauls Bonmot auch auf Henschels „Kindheitsroman“ zutrifft, der durchweg die authentische Erzählperspektive eines Kindes einnimmt, wirkt Jensens fulminanter Geisterroman „Oberland“ eher wie eine endgültige Befreiung von den Qualen der Kindheit und Pubertät.

Ebenfalls eine Art von Befreiung ist die nicht versiegende Flut der Bücher, deren Sujet die Nazizeit ist und die in der Regel rein autobiografisch gehalten sind: Der 2003 verstorbene Literaturkritiker Reinhard Baumgart machte mit „Damals“ den Anfang, es folgten Wibke Bruhns mit ihrem Nazi-und-20.-Juli-Verschwörer-Vaterbuch, Wolfgang Schlauch mit Berichten deutscher Soldaten aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft oder Sabine Bode mit „Die vergessene Generation – die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. Sind diese Bücher im Einzelnen differenziert, selten anklagend, oft ängstlich darauf bedacht, aus den Deutschen keine Opfer und Unschuldslämmer zu machen, so wirken sie in ihrer plötzlichen Massierung doch wie ein großer Seufzer der Erleichterung: Fünfzig Jahre haben wir geschwiegen und Schuld auf uns genommen. Diese aber ist abgetragen, nun soll von unserem Leid und unserer misslichen Lage die Rede sein dürfen. Das hat schon was von einem Täter-Opfer-Abgleich, von verdeckter Opferstilisierung.

Bei so viel Trends fällt auf, dass die Popliteratur wirklich mausetot ist wie selten ein literarisches Genre. Was aber machen ihre Protagonisten? Die schreiben Bücher darüber, wie man sich das Rauchen abgewöhnt (Alexander von Schönburg), warum Patchworkfamilien doof sind (Joachim Bessing), was ein Leben mit Kindern so mit sich bringt (Elke Naters, Sven Lager). Sie veröffentlichen wie Benjamin von Stuckrad-Barre abermals einen Remix für alle und mimen das traurige Dasein einer Popautoren-Karikatur. Oder sie halten sich wie Eckhard Nickel nobel zurück, nur um urplötzlich, ganz nobel, ganz Antipop, in der SZ ein Hohelied auf einen Klassiker wie Vladimir Nabokovs „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ zu singen. Ein Roman, der schwindelerregend kunstvoll das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit thematisiert – kaum zu glauben, dass der inbrünstige Freud-Hasser Vladimir Nabokov sich ohne Vorsorge zu treffen und ganz unbewusst der Lolita-Vorlage von Heinz von Lichberg bedient haben soll. GERRIT BARTELS