Stärke vor dem Rückzug

Der Anschlag auf Scheich Jassin soll den geplanten israelischen Abzug aus Gaza nicht als Schwäche erscheinen lassen

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Unter der grünen Flagge der Hamas lag der in Fetzen zerrissene Körper von Scheich Ahmed Jassin, den hunderttausende Palästinenser auf dem Weg zum Friedhof begleiteten. Eine Krankenschwester und ein Passant hatten zuvor die Überbleibsel des Getöteten in Plastiktüten gesammelt. Er war eben mit seinem Rollstuhl aus der Moschee gekommen, in der er sein Frühgebet hielt, als ihn gestern drei aus einem israelischen Hubschrauber abgeschossene Raketen töteten. Sieben weitere Menschen, darunter der Schwiegersohn Jassins und einige seiner Leibwächter, starben bei dem Angriff.

„Wir begrüßen den Märtyrertod mit einem Lächeln“, steht in arabischen Buchstaben auf dem Eingang zur Moschee im Zentrum der Stadt Gaza, die nur wenige hundert Meter vom Haus des Scheichs entfernt ist. Tausende kamen zum Ort des Anschlags, rieben den mit dem Blut der Getöteten vermengten Staub auf ihre Hände, Bewaffnete schossen in die Luft, aus den Lautsprechern der Moscheen dröhnten pausenlos Koran-Verse und Rufe nach Vergeltung. Kirchen ließen die Glocken läuten. „Scharon hat die Tore zur Hölle geöffnet. Nichts wird uns aufhalten, ihm den Kopf abzuschlagen“, verkündete die Hamas. Die palästinensische Führung nannte den Mordanschlag ein „billiges und schmutziges Verbrechen“.

In der offiziellen Erklärung der israelischen Armee dagegen heißt es: „Bei einer Operation der Sicherheitskräfte im nördlichen Gaza-Streifen wurde Scheich Ahmed Jassin, Führer der Hamas-Terrorgruppe und direkt verantwortlich für dutzende Terrorangriffe und Morde an Israelis, Ausländern und Sicherheitsleuten, durch einen Luftangriff auf seinen Pkw getötet.“ Premierminister Ariel Scharon lobte den Anschlag: „Der Staat Israel hat heute Morgen den Anführer der palästinensischen Mörder und Terroristen getroffen“, sagte er vor den Likud-Abgeordneten. Berichten zufolge hatte Scharon die Exekution persönlich angeordnet und überwacht.

Der Premierminister ist seit der Bekanntgabe seines Plans eines einseitigen Abzugs aus dem Gaza-Streifen zunehmender Kritik von Seiten seiner rechtsnationalen Koalitionspartner sowie der Armee ausgesetzt. Nach Ansicht des Militärexperten Seew Schiff der israelischen Zeitung Ha’aretz war der Mord an Jassin „Teil der israelischen Offensive vor dem Abzug“. Es bestehe die Gefahr, dass der Gaza-Streifen in Anarchie gerate und „die Hamas die Kontrolle über die Straße gewinnt“. Die Hamas hatte in den vergangenen Wochen verstärkt Angriffe auf Soldaten im Gaza-Streifen vorgenommen. Mohammed Deif, die Nummer eins auf der Liste der von Israel gesuchten Terroristen, erklärte mit Blick auf den Abzugsplan bereits den „Sieg“ über die israelische Armee.

Die geglückte Tötung des bislang ranghöchsten Führers einer palästinensischen Widerstandsorganisation mag für einige Zeit die Gemüter innerhalb der Koalition beruhigen. Allerdings wurde in den Reihen der Opposition Sorge um die Folgen der Operation laut. „Wenn ich Regierungsmitglied gewesen wäre, hätte ich gegen die Operation gestimmt“, meinte Schimon Peres, Chef der Arbeitspartei. Der einzige Weg, den Terror einzudämmen, sei „der der Verhandlungen“. Peres hatte vor acht Jahren die Exekution des militanten Hamas-Führers Ichije Ajasch befürwortet. Bei sechs großen Vergeltungsschlägen der Palästinenser starben damals fast hundert israelische Zivilisten unmittelbar vor den Wahlen, die Peres knapp verlor.

Aus Sorge vor Racheakten für den Tod von Scheich Jassin verkündete die israelische Polizei am Morgen erhöhte Alarmbereitschaft, die für ein bis zwei Wochen andauern soll. Straßensperren führten an den Einfahrtsstraßen zu stundenlangen Staus. Das Sicherheitspersonal wurde an den staatlichen Ministerien, an den Häfen und Industrieanlagen aufgestockt. Die Grenzen zum Gaza-Streifen und dem Westjordanland wurden abgeriegelt.

In Ost-Jerusalem blieben die palästinensischen Läden geschlossen, nachdem die Führung einen Trauerstreik ausgerufen hat. „Die Israelis haben heute unseren Anführer getötet“, sagte ein Ladenbesitzer. „Jassin wird immer ein Symbol in Palästina bleiben.“ Im Westen der Stadt blieben die Reaktionen gemischt. „Endlich haben sie diesen Hund getötet“, kommentierte ein jüdischer Kioskbesitzer und schlug vor, doch gleich auch noch „zu Arafat zu ziehen“. Andere Passanten äußerten die Sorge, dass der Terror nun nur noch schlimmer werde.