„Wir brauchen einen Krieg der Ideen“

Rückrufaktion für totalitäres Gedankengut: Ein Gespräch mit Paul Berman über sein gerade in Amerika erschienenes Buch „Terror and Liberalism“. Fehlgeleitete Vorstellungen von Toleranz auf Seiten der europäischen Linken lassen für den Totalitarismustheoretiker Berman den Islamismus florieren

Interview TOBIAS RAPP

taz: Die Hauptidee Ihres neuen Buchs „Terror and Liberalism“ ist, dass die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts mit ihrem Tod in Europa nicht starben, sondern Verlängerungen im Nahen und Mittleren Osten fanden. Können Sie das erläutern?

Paul Berman: Die totalitären Bewegungen entstanden, weil all die liberalen Fortschrittsversprechen des 19. Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg auf breiter Front gescheitert waren – die Versprechen einer Gesellschaft, die auf der Trennung von Staat und Kirche, Öffentlichem und Privatem, Gesellschaft und Staat aufbaute. Dieses Scheitern machte den Weg frei für antiliberale Rebellionen, die totalitären Bewegungen.

So unterschiedlich diese im Einzelnen waren, es gibt einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten. All diese Bewegungen teilten etwa die Überzeugung, die Zivilisation sei Lug und Trug, eine Bedrohung der Menschheit. All diese Bewegungen teilten die Idee, die neue Gesellschaft solle aus einem Guss sein, ohne interne Spaltungen, ohne Meinungsverschiedenheiten. All diese Bewegungen entwickelten eine paranoide Weltsicht, in der das Volk in einer Art Zangenangriff gleichzeitig durch subversive Elemente aus der Mitte der eigenen Gesellschaft und durch einen groß angelegten Angriff von außen bedroht wurde. Und all diese Bewegungen gingen davon aus, dass diese inneren und äußeren Feinde in einem riesigen Endkampf besiegt werden würden und dass aus diesem blutigen Krieg dann jene unveränderbare endgültige Gesellschaft der Zukunft hervorgehen werde. Diese Bewegungen entstanden vor allem in Europa in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Aber eben nicht nur, sie entstanden genauso in der muslimischen Welt.

Wie sahen denn die totalitären Bewegungen in der muslimischen Welt aus?

Die erste dieser Bewegungen war der Kommunismus, der sich überall in der muslimischen Welt ausbreitete. Am effektivsten waren aber die strikt muslimischen Bewegungen. Also der Islamismus zum einen, das heißt die als revolutionäre politische Bewegung gedachte fundamentalistische Version des Islam. Die wurde 1928 begründet, als sich in Ägypten die Muslimbruderschaft formierte – sechs Jahre nach Mussolinis Marsch auf Rom. Die andere Bewegung war der Panarabismus, am radikalsten verkörpert durch die Baath-Partei, die sich 1943 in Damaskus begründete.

Beide Bewegungen stellten sich die Gesellschaft der Zukunft als Rückverwandlung einer weit zurückliegenden Vergangenheit vor. So wie Mussolini seine Anhänger in Legionen organisierte und sich am Alten Rom orientierte, wandten sich Islamisten und Baathisten dem siebten Jahrhundert zu, dem Kalifat der Jahre nach dem Propheten Mohammed. Die Islamisten betonten eher das Heilige, die Baathisten das Imperiale. Im Grunde war es aber das gleiche Konzept.

Für mich sind diese Bewegungen nur andere Versionen jener Bewegungen, die Europa für so viele Jahre dominiert haben. Und die Resultate sind ebenfalls die gleichen: Millionen von Menschen sind umgebracht worden.

Warum hat man diesen Parallelen im Westen bisher so wenig Aufmerksamkeit geschenkt?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist sicherlich, dass wir glauben, die Menschen in anderen Teilen der Welt mit ihren exotischen Gebräuchen müssten anders sein als wir. Deshalb wollen wir es nicht hören, dass sich ihre Gebräuche von unseren gar nicht groß unterscheiden. Insbesondere von unseren übelsten. Ein anderer ist, dass der Westen sich generell nicht sonderlich für die islamische Welt interessiert.

Aber es dürfte noch einen Grund geben: In den westlichen Ländern ist man des Kampfes gegen den Totalitarismus einfach müde. Da gab es den Zweiten Weltkrieg. Den Kalten Krieg, inklusive so kolossaler Irrtümer wie dem Vietnamkrieg. Als die Revolutionen der frühen Neunziger schließlich die kommunistischen Regime in Osteuropa stürzten, war das, als sei eine Last von den Schultern geworfen worden. Endlich konnte man sich anderen Dingen zuwenden. Unermesslich reich werden etwa oder vor McDonald’s protestieren. Es ist eine Blindheit, die im Nachhinein wirklich schockierend ist.

Die Hauptfigur Ihres Buches ist Said Qutb, ein im Westen bislang wenig bekannter islamischer Gelehrter, der als Vordenker von al-Qaida gilt. So wie sie ihn beschreiben, ist er eine durch und durch moderne Figur.

Ja, Qutb ist eine moderne Figur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er ist Literaturwissenschaftler – ein Georg Lukács, wenn man so will. Er ist ein umfassend gebildeter Intellektueller, der über Literatur und Existentialismus schreibt und nichtsdestotrotz ein gigantisches totalitäres Gedankengebäude errichtet. Nur eben nicht auf der Basis völkischer Gedanken oder mit Karl Marx als Zentralgottheit. Qutbs Werk basiert auf einer Interpretation des Koran. Aber darin ist er vollkommen modern. Bei der Lektüre seiner Korankommentare trifft man einen zugänglichen und klarsichtigen Denker. Wenn man Qutb liest, erfährt man keinen dieser Schocks, die man vielleicht erwartet hätte, man prallt auf keinen Geist aus einer anderen Welt. Überhaupt nicht.

Seine Leser leben ja auch auf keinem anderen Planeten. Sie haben Ihre Ausgaben von Qutbs Werken einige Häuser von Ihrer Wohnung entfernt in einem arabischen Buchladen in Brooklyn gekauft.

Richtig. Die Ausgaben, die ich gelesen habe, sind in Großbritannien von britischen Muslimen übersetzt worden. Ausgaben von Qutbs Werken sind überall erschienen: in Indien, Kenia, Europa. Um den kosmopolitischen Charakter dieser Bewegung zu verstehen, muss man sich nur den Hintergrund der Attentäter vom 11. September anschauen. Das waren Leute, die aus verschiedenen Ländern des Nahen Ostens stammten und die ihre Ausbildung im Westen erhielten: in Deutschland, in Belgien, in Florida. Leute aus einer privilegierten Schicht, Leute, in denen wir uns wiedererkennen können. Nichts an ihnen ist exotisch oder merkwürdig.

Im Zentrum von Qutbs Philosophie scheint die Angst vor der Säkularisierung zu stehen.

Der Kern von Qutbs Philosophie ist, dass es eine richtige Art zu leben gibt. Und zwar in einer geordneten Beziehung zu Gott, so wie es der Koran vorsieht, so wie er von Said Qutb interpretiert wird. Diese korrekte Beziehung zu Gott lässt keinerlei Lücken oder Momente des Zweifels oder Skeptizismus zu. Es ist ein von oben bis unten vollständig geordnetes Leben. In Qutbs Vorstellung ist dieses geordnete, korrekte Leben dem ständigen Angriff neuer Ideen ausgesetzt, die es von innen und außen bedrohen, und der Angriff aus der muslimischen Welt selbst erscheint ihm der tödlichste und gefährlichste zu sein. Dieser Angriff, so interpretiert es Qutb, kommt von Muslimen, die an das liberale Konzept einer Gesellschaft glauben, in der Staat und Kirche, das Öffentliche und das Private in verschiedene Sphären aufgeteilt ist. Seine Angst war, dass die gusseiserne Mentalität, die er sich erträumte, durch fremde Einflüsse zerstört werden würde. Ich sollte hinzufügen: Das ist immer die totalitäre Idee.

Und die ultimative Reinheit findet man nur im Tod …

Es gibt nur einen Weg, wirkliche Reinheit zu finden: indem man jeden umbringt, inklusive sich selbst.

Auch Qutb hat sich geopfert.

Qutb hatte die Möglichkeit, aus Ägypten zu fliehen. Aber er lehnte ab, obwohl er wusste, dass Nasser ihn hängen lassen würde. Er hatte das Gefühl, er müsse seinen Anhängern die richtigen Anweisungen in den Tugenden des Märtyrerseins geben.

Sie fordern, die westlichen Intellektuellen sollten einen „Krieg der Ideen“ beginnen und die Auseinandersetzung mit den Islamisten suchen. Ist das nicht schwierig, wenn jene von dem Gedanken besessen sind, jeder Einfluss von außen trage das Verderben in sich?

Es ist ein Fehler zu glauben, die Anhänger der islamistischen oder panarabischen Bewegungen seien außerhalb der Reichweite vernünftiger Argumente. Ich glaube, dass diese Leute sich grundsätzlich nicht groß von den Millionen gutgläubiger Menschen unterscheiden, die in der Vergangenheit Mitglied einer kommunistischen Partei waren oder einer faschistischen Organisation. Natürlich sind sie offen für Diskussionen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die intellektuellen Zentren der arabischen Welt London und Paris sind. Und dass Berlin und Hamburg ebenfalls wichtige Rollen spielen. Auch Brooklyn ist ein intellektuelles Zentrum islamischen Denkens. Die Debatten finden genau dort statt, wo wir leben.

Einer der Gründe, warum die islamistischen Bewegungen in Europa so stark florieren, ist eine fehlgeleitete Vorstellung von Toleranz auf Seiten der Linken. Gerade die Linke hat deshalb eine besondere Verantwortung, sich für liberales Denken einzusetzen, gegen die Theorien der Ausrottung, gegen die paranoide Weltsicht. Das ist eine Debatte, die vor allem in Europa stattfinden muss, schließlich lebt dort ein Großteil der muslimischen Intellektuellen.

Den Deutschen weisen Sie eine besondere Verantwortung zu. Wie muss man sich denn die deutsche „Rückrufaktion für totalitäre Ideen“ vorstellen, die Ihnen vorschwebt?

Unter allen Ländern der Welt hat Deutschland die größte Erfahrung im Bewältigen einer totalitären Vergangenheit. Deutschland hat diesen Prozess nicht einmal, sondern zweimal durchlaufen. Es ist ja nicht so, dass Deutschland keine Verantwortung für die Situation im Nahen Osten hätte. Die Doktrinen des Islamismus und des Baathismus beziehen sich schießlich auf die schlimmsten Traditionen deutschen politischen Denkens. Es wäre also nicht das Schlechteste, wenn die Deutschen anfangen würden, neue und bessere Ideen zu verbreiten. Die deutsche Regierung sollte keine Mühe scheuen, liberale Ideen und Prinzipien und Institutionen in der muslimischen Welt zu verbreiten, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten. Aber dieser Kampf ist nicht nur Sache der Regierung, er ist Sache der ganzen Gesellschaft, der Intellektuellen und der Bürger, Sache der Institutionen, die nicht mit der Regierung verbandelt sind.

Wie das genau aussehen soll, kann ich auch nicht sagen – die Menschen sind erfinderisch, ihnen wird schon was einfallen. Allerdings setzt dies die Einsicht voraus, dass eben nicht George W. Bush der größte Feind der Zivilisation ist, so wenig man mit ihm übereinstimmen mag, sondern der Totalitarismus und die Terroristen. Doch um die zu bekämpfen, braucht man keine Regierung, die einem sagt, was man tun soll. Das kann man auch selbst machen.

Die Iraker scheinen allerdings nicht allzu glücklich mit den Amerikanern zu sein, kaum ein Tag vergeht ohne Berichte über antiamerikanische Demonstrationen.

Es gibt Gründe, sich über die Entwicklungen im Irak zu freuen, und die antiamerikanischen Demonstrationen gehören auf jeden Fall dazu. Sie sind ein Zeichen dafür, dass die Iraker sich frei fühlen, zu sagen, was sie denken, und nicht mit dem gleichen autoritären Gleichmut von ihrem alten Diktator zu einem neuen Diktator überwechseln wollen. Dass es diese Demonstrationen gibt, ist ein Zeichen für ein Gefühl von Freiheit, auch wenn man natürlich ein klein wenig besorgt über die Ideen sein sollte, die hinter diesen Demonstrationen stecken.