Intelligenz ist für alle da

Kleine Soziologie der Erziehung (3): Zur Erziehung kann man immer dann motivieren, wenn es gelingt, ein Nichtwissen nahe zu legen und Angebote zur Kompensation durch Wissen zu machen

VON DIRK BAECKER

Wenn die Rollenasymmetrie zwischen Lehrern und Schülern nicht mehr verlässlich und aussichtsreich zur Erziehung motiviert (siehe Teil 2 dieser Serie, taz vom 24. 2.), kommt Parsons’ zweite Antwort wie gerufen. Er hat sie nicht zufällig im Zusammenhang mit einer Überlegung entwickelt, die generell darauf abstellt, dass gesellschaftliche Strukturen, wie zum Beispiel die soziale Schichtung, nicht mehr die Ordnungsleistungen erbringen wie früher und daher von so genannten Austauschmedien beziehungsweise Kommunikationsmedien in dieser Funktion der Motivation zur Kommunikation abgelöst werden.

Luhmann wird später ergänzen, dass die Kommunikationsmedien auch an die Stelle von Rollenasymmetrien treten, obwohl diese dadurch genauso wenig verschwinden wie die soziale Schichtung. Offensichtlich erfüllen die soziale Ungleichheit und Rollenasymmetrien wie die zwischen Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Richter und Angeklagter noch andere gesellschaftliche Funktionen als die Motivation zu spezifischen Kommunikationen, sodass sie beibehalten werden, ohne in den entsprechenden Funktionssystemen noch wirklich von Belang zu sein. Auch im System der Krankenbehandlung und im Rechtssystem hat man es ja mit Versuchen zu tun, die Bedeutung dieser Rollendifferenz herunterzuspielen, weil Heilung und Bestrafung sich längst auf andere Strukturen stützen können.

Für die Universität immerhin schlägt Parsons in seiner zweiten Antwort vor, dass es Fragen der Intelligenz sind, nämlich der generalisierten Fähigkeit zum Umgang mit Wissen, die hinreichend dazu motivieren, Erziehungsangebote zu formulieren und anzunehmen. Luhmann hatte stattdessen zuerst das Kommunikationsmedium „Kind“ (verstanden als irgendwie unvollständiger Erwachsener) und später das Kommunikationsmedium „Lebenslauf“ (verstanden als Konstruktion von Wendepunkten, an denen etwas aufhören und etwas anderes anfangen kann) als Medium des Erziehungssystems vorgeschlagen.

Mit diesen beiden Vorschlägen haben sich die Erziehungswissenschaften bis heute nicht so recht anfreunden können. Im Medium Kind stellt die Erziehung zu sehr auf die Personenveränderung und zu wenig auf die Personwerdung ab, eine nicht unbedeutende Nuance, wenn man darauf achtet, dass die Personen eher von außen verändert werden, während sie eher von innen erst einmal werden müssen, was sie sind. Und im Medium Lebenslauf, das nicht zuletzt auf die Phänomene der Weiterbildung und des so genannten lebenslangen Lernens reagieren sollte, droht die Erziehung, ihre Absichten zum einen für die Begleitung des gesamten Erwachsenenlebens zu überziehen und sich zum anderen allzu sehr an die Karriereangebote von anderen Organisationen, unter anderem Firmen und Behörden, zu binden.

Angesichts dieser Diskussion lohnt es sich meines Erachtens, die für Universitäten entwickelte zweite Antwort von Parsons für alle Erziehungseinrichtungen zu verallgemeinern. Zwar hatte Parsons die Universitäten als Spitzenprodukte und gleichzeitig als institutionelle Träger einer zunehmend kognitiv, also lernfähig orientierten Moderne auszeichnen wollen. Aber wenn man sich davon verabschiedet, Intelligenz für eine Spitzenleistung zu halten, und sie stattdessen als eine in jedem Alltag brauchbare Kompetenz im Umgang mit Wissen versteht, liegt es auf der Hand, Zugänge zu dieser Intelligenz auch in Kindergärten und Schulen für möglich und für erforderlich zu halten.

Intelligenz gilt hier jedoch nicht in erster Linie als individuelle Eigenschaft, sondern sie gilt, wenn sie zum Kommunikationsmedium taugen soll, als Auszeichnung eines bestimmten Typs von Kommunikation und zugleich als Motiv, sich auf diese Kommunikation einzulassen. Zu dieser selektiven und motivationalen Leistung befähigt sich ein Kommunikationsmedium durch eine so genannte binäre Codierung, die die Kommunikation innerhalb eines Funktionssystems einer harten Entweder-oder-Unterscheidung unterwirft, die als Erkennungsregel und als Sortierschema und eben auch als Grund, all das zu akzeptieren, funktioniert.

Diese Idee des binären Codes hat Luhmann in die Diskussion eingeführt und an Fällen wie Zahlung/Nichtzahlung für die Wirtschaft, Regierung/Opposition für die Politik, Recht/Unrecht für das Rechtssystem und Wahrheit/Unwahrheit für die Wissenschaft erprobt. Ich stelle mir vor, dass Wissen/Nichtwissen eine Unterscheidung ist, die als binärer Code im Medium Intelligenz des Erziehungssystems der Gesellschaft beschrieben werden kann. Das heißt, ich nehme an, dass zur Erziehung immer dann motiviert werden kann, wenn es gelingt, bestimmten Personen ein Nichtwissen nahe zu legen und ihnen Angebote zur Kompensation dieses Nichtwissens durch Wissen zu machen.

In diesem Moment würden diese Personen im Medium der Intelligenz kommunizieren, wenn Intelligenz als generalisierte Fähigkeit im Umgang mit Wissen zuallererst heißen darf, ein Nichtwissen identifizieren zu können und vom Nichtwissen auf die Möglichkeit des Wissens zu schließen. Person wird man, indem man lernt, Wissen und Nichtwissen als eine Form mit zwei Seiten zu begreifen und zu behandeln.

Das Kommunikationsmedium Intelligenz bietet der Erziehung den Vorteil, unabhängig von einer Rollenasymmetrie zu funktionieren, weil es für die Spezifikation von Lehrangeboten ebenso offen ist für die Spezifikation von Selberlernen und daher alle möglichen Kombinationen zwischen Lehre und Lernen zulässt, mit denen Erziehungseinrichtungen gegenwärtig ja auch bereits experimentieren. Die Möglichkeit der Abschaffung des Frontalunterrichts und die Einführung von Pädagogiken des „teaching back“ sind hier ebenso zu erwähnen wie Versuche der altersmäßigen Durchmischung und projektförmigen Organisation von Klassenverbänden.

Teil vier dieser auf insgesamt sechs Teile angelegten Serie erscheint am kommenden Dienstag. Darin erläutert der Autor die These, dass es Erziehung schaffen muss, sich von Liebe und Macht zu unterscheiden.