Licht aus in der Irrenanstalt

Mit dem Lampion schließt eine der letzten Kneipen am Kollwitzplatz aus Wendezeiten. Und Graf von Kiedorf sucht einen neuen Befehlsstand

„Im Lampion hatten es die Yuppies recht schwer“

von LARS-ULRICH SCHLOTTHAUS

„Lass anspannen“, befiehlt Manfred Graf von Kiedorf seinen beiden Leibeigenen des heutigen Abends im Lampion. Die beiden Westberliner Studenten, die sich in das winzige Café und Puppentheater an der Knaackstraße, gleich um die Ecke vom Kollwitzplatz, verirrt haben, sollen ihm gefälligst ein Taxi rufen. Der Graf hat genug getrunken. Schließlich ist er schon ein paar Tage unterwegs und will jetzt nach Hause. Wer regelmäßiger hier verkehrt hat, weiß, dass der Graf keine Widerworte duldet. Wer es trotzdem versucht hat, musste sich spätestens nach zehnminütigem verbalem Sperrfeuer geschlagen geben. Der Graf bekommt sein Taxi. Nur muss er sich künftig einen neuen Befehlsstand suchen.

Denn am Samstag hatte das Café und Wandertheater des Puppenspielers Klaus Breuing seinen letzten Abend. „Wir müssen schließen, der Vermieter schmeißt uns raus, Kinder“, hatte der Wirt kurz zuvor seinen Gästen verkündet. Für die meisten war es nichts Neues. „Wir sind auf der Suche nach neuen Räumen.“ Keiner mag es so recht glauben, obwohl Klaus heute nüchtern scheint. Allein das Wort neu klingt im Zusammenhang mit dem Café wie eine Entweihung. Das Lampion war nie neu. Es gab dort nichts Neues.

Die Bilder der verstorbenen Stammgäste neben dem Tresen sind schon von der Wand genommen am letzten Abend. Zwei Musiker spielen melancholische russische Volkslieder. Der Tod des Lampions war ein langsamer. Schon im vergangenen Sommer wurden die meisten Sitzplätze draußen durch ein Baugerüst verstellt. Zuletzt musste drinnen die Decke durch Metallträger gestützt werden, weil sie den Gästen auf den Kopf zu fallen drohte. „Das wäre wenigstens ein schnelles Ende gewesen“, sagt ein Gast aus der letzten Runde, die sich unspektakulär an eine der zahlreichen Runden reiht, die Abend für Abend im Lampion versammelt saßen, und erntet damit wohlwollendes Gelächter.

Mit dem Lampion musste ein Reservat oder Auffangbecken schließen. Nicht, dass der Prozentsatz an Alkoholikern sich von anderen Kneipen unterschieden hätte. Je nach Tagesstimmung und Laune wurde das Lampion auch „Wohnzimmer“ oder „Irrenanstalt“ genannt. Es stand in der Tradition einer Ostberliner Kultur- und Kneipenszene. „Vor der Wende traf man sich im Espresso, Wiener Café bei Fengler oder später im Metzer Eck“, erzählt der Dramatiker und Lampionist Werner Buhss. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Musiker, Filmemacher, Radioleute gehörten dazu. Klaus habe es dann geschafft, diesen Kreis in seinen neuen Laden zu ziehen. Mit den alten Freunden kamen neue und so ging es weiter.

In der Euphorie kurz nach der Wende, als zumindest theoretisch alles noch möglich schien, traf man sich eben hier. Es wurde wie anderswo auch über alternative Gesellschaftsmodelle diskutiert wurde, der Begriff „Freiheit“ bedeutete noch nicht selbstredend, möglichst großen Reichtum anzuhäufen. Das Lampion war so eine Art kleines gallisches Dorf mit wechselnder Belegschaft, das nicht aufhörte der kapitalistischen Übermacht erbitterten Widerstand zu leisten. Mit der Ausnahme, dass sich keiner der Gäste so recht an das Rezept des Zaubertrankes erinnern konnte.

Der Widerstand lag eher im Detail. Natürlich musste Klaus mit der Kneipe Geld verdienen, aber wenn schon, dann ohne lästige Trends. Wozu so etwas Neumodisches wie Milchkaffee oder Carpaccio servieren. Eine schlichte Stulle und ein Kaffee taten es auch oder die berüchtigten Soleier in der großen Glasschale, von denen keiner wusste, wie lange sie schon im Sud lagen, die aber trotzdem jedem Fremden als Delikatesse angepriesen wurden. Die selbst gezimmerte Treppe zur Loge, der runde Hocker, der eigentlich immer schon gewackelt hat. Klaus’ konsequente Weigerung, etwas Hochmodernes wie einen CD-Spieler anzuschaffen.

Hinzu kam eine beinahe schon übermenschliche Toleranz gegenüber Wendeverlierern, sozial Schwachen, Psychopathen und Alkoholikern. Lokalverbote wurden nur ganz wenige ausgesprochen und meist von den Angestellten ignoriert. „Und deshalb hatten es die Yuppies im Lampion auch recht schwer“, sagt Buhss. Sie konnten froh sein vom Grafen Kiedorf noch als Leibeigene akzeptiert zu werden.