Die Gesamtschule ist out, sie lebe hoch

Bildungsexperten rütteln an der dreifaltigen Schule. Einig sind sie mit der GEW, manchen Eltern – und der Wirtschaft

Erst mal darüber reden. Seitdem die Pisa-Studie das deutsche Bildungs-Selbstbewusstsein tödlich verwundete, reißt die Debatte nicht mehr ab. Doch in der Realität wird weiterhin auf das schlechte alte dreigliedrige Schulsystem gesetzt, obwohl Pisa dessen diskriminierende Auswahlfunktion belegt hat. Die traditionelle Apologetin der Gesamtschule, die SPD, hat sich von ihrem einstigen Steckenpferd verabschiedet und propagiert nun Elitenförderung.

In die thematische Lücke drängt seit einiger Zeit die den Grünen nahe stehende Heinrich-Böll-Stiftung. Deren Bildungskommission veranstaltete kürzlich eine Podiumsdiskussion zum Thema Schulstrukturen. „Wir wollen frischen Schwung in die Debatte bringen“, kündigte Sybille Volkholz an. Die ehemalige Berliner Schulsenatorin war zu ihrer Amtszeit Anfang der 90er-Jahre noch davon überzeugt, eine solche Debatte sei unpassend. Pisa macht’s möglich.

Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm prangerte den Doppelbetrug des deutschen Schulsystems an: Ein Irrglaube sei, dass homogene Klassen zu besseren Leistungen führten. Falsch sei auch, dass Homogenität überhaupt erreicht werde. „Die besten vierzig Prozent der Realschüler sind besser als die schlechtesten zehn Prozent der Gymnasiasten“, zitiert Klemm aus Pisa. Das Dumme ist, dass, wer einmal in der Realschule landet, dort in der Regel auch bleibt. „Die unterschiedlichen Lernmilieus an Gymnasium und Realschule vergrößern die Differenzen“, erklärte der Bildungsforscher. Es sei also klüger, die unterschiedlichen Schüler gar nicht erst zu trennen. Damit lag er auf einer Linie mit Publikum und Podium. Sein Disputant Dieter Lenzen stimmte zu: „Heterogenität muss Normalfall sein.“ Das sagt Lenzen als Erziehungswissenschaftler. Als Präsident der Freien Universität Berlin macht er sich dagegen für Eliteunis stark. Zwischen Auslese und Integration hin- und hergerissen, plädiert Lenzen für ein zweigliedriges System mit Gesamtschulen und Gymnasien als Kompromiss. Das eingliedrige Schulsystem, das Klemm fordere, sei politisch nicht durchsetzbar.

Wohl wahr. Die Kultusminister zeigen wenig Neigung, an der Dreigliedrigkeit zu rütteln. Anette Schavan (CDU), Bildungsministerin im Musterländle Baden-Württemberg, sagte Anfang Februar in einem Pressegespräch: „Wir brauchen keine Schulstrukturdebatte. Das ist das Falscheste, was wir jetzt tun können.“ Der Baden-Württembergische Handwerkstag fordert jedoch eine gemeinsame Schule bis zur neunten Klasse. Auch die Bertelsmann-Stiftung und die Unternehmensberatung McKinsey tendieren zu gemischten Schulmodellen. Der prognostizierte Facharbeitermangel treibt die Arbeitgeber in die Arme der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), die schon lange die Verschmelzung von Hauptschule, Realschule und Gymnasium zu einer „Schule für alle“ will. Auch die Vertreter des Bundeselternrates wollen das – wenngleich sie verunsichert sind ob der schlechten Ergebnisse, welche die Gesamtschule deutschen Typs bei Pisa erzielt hat.

„Manchmal könnte man denken, die Kultusminister stehen allein in der Ecke“, meint die GEW-Schulreferentin Martina Schmerr. Doch sei der alte Begabungsglaube „noch tief verwurzelt“, sagt sie. Einen baldigen Sturz der Dreigliedrigkeit wird es daher nicht geben.

So überstürzt praktisch will auch die Heinrich-Böll-Stiftung nicht werden. Erst einmal müsse man lernen, wie mit Heterogenität überhaupt umzugehen sei, meint Sybille Volkholz. „Sukzessive“, solle man vorgehen. Lenzen geht da mit, trotz seines Fazits: „Wir brauchen die Migrantenkinder an den Gymnasien, und zwar sofort.“ Gut, dass man mal darüber geredet hat. ANNA LEHMANN