Jemand will mehr

In der Freien Akademie der Künste ließ Günter Grass eigene Gedichte aus 50 Jahren hören. Beim Vortragen wippte er mit dem Oberkörper und gab sich präzise sowie propagierend

Grass spricht mit einer Emphase, als stünde er in der Frankfurter Paulskirche

von KRISTOF SCHREUF

Günter Grass ist meistens und auch in letzter Zeit vor allem im Fernsehen zu sehen. Er stand vor einer Studiotür, die sich bei einer Veranstaltung zu Ehren von Christa Wolf öffnete. Er saß an einem Küchentisch und sprach für ein Literaturmagazin über Im Krebsgang. Er stand vor einem Mikrophon, das seine Antworten an Ulrich Wickerts Studio übertrug. Er saß neben Gerhard Schröder in der Sendung von Alfred Biolek. Eine längere Strecke legte Grass im Fernsehen zuletzt zurück, als er sich vor ein paar Jahren erhob und auf den schwedischen König zuging, um von ihm den letzten Nobelpreis für Literatur im 20. Jahrhundert entgegenzunehmen. Gehend lässt sich Grass selten von einer Kamera erwischen.

In der Freien Akademie der Künste bewegte er sich am vergangenen Samstag mit etwas hochgezogenen Schultern, ohne Pfeife und mit leicht nach vorne hackendem Kopf zur Bühne und hinter ein Pult. Beim Rezitieren seiner Gedichte aus über einem halben Jahrhundert verstärkte sich das Hacken, wurde furios und bissiger. Grass‘ Stirn schnellte nach vorn, dann zog sie nach unten, während der Oberkörper nach hinten schwang, ausholte und erneut ins Metrum, in die Silben, in die Endungen und Pausen hackte. Grass wendete sich während der Veranstaltung nicht direkt ans Publikum. Den später folgenden Dialog bestritt ein Herr von der Zeit inhaltlich und akustisch fast allein, weil der Gesprächspartner seine Antworten auf die Fragen unhörbar neben das Mikrophon sprach.

Der Eindruck des Schriftstellers beim Vortragen ist deshalb das bleibende Erlebnis. Es gibt wahrscheinlich niemanden, der mündlich die Bedeutung des Geschriebenen so präzise erfasst, herausstellt und propagiert wie Günter Grass. Er ist in Hamburg sogar so emphatisch, als stünde er in Frankfurt in der Paulskirche. Der Anlass aber ist, so wirkt es, nicht die Verleihung eines Büchner- oder Friedenspreises, sondern mindestens die Teilnahme an einer Debatte der Frankfurter Nationalversammlung 1848.

Von da an passt bei Grass etwas nicht mehr. Er hört sich auf einmal kaum noch wie ein Meister des lauten Lesens an. Dafür macht es einen neuen Sinn, warum er sich so oft als „Bürger“ vorgestellt und als „Verfassungspatriot“ selbst in die Pflicht genommen hat. Er will „dabei sein“. Das ist seine Sehnsucht. In der Nationalversammlung will er genauso hinzugezogen werden wie im Wahlkampf für die SPD in den sechziger Jahren oder 1990 in der Fernsehdiskussion mit Rudolf Augstein über die Wiedervereinigung. Er will Leute erreichen, nicht, um sie nur zu überzeugen, sondern auch um einer von ihnen zu sein. Oder sein zu können. So etwas widerspricht meistens dem Beruf des Schriftstellers. Möglich, dass Grass vor der Frage verzagt, für wen er sich halten soll.