Die Augen der Villa Arpel

In seinen raffinierten Filmkulissen balancieren sich Unbehagen und Faszination an der Moderne aus: Der Filmemacher Jacques Tati im Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne in München

Die Ausstellung ist eine Nachhilfestunde in genauer Beobachtung

VON IRA MAZZONI

„Es ist das Verhalten der Bewohner, das einen zum Lachen bringt. Aber damit die Komik funktionierte, war es unumgänglich, dass die Villa mit ihrem Garten und ihrem ganzen automatischen Schnickschnack der Küche, des Garagentors etc. authentisch ist“, behauptet Jacques Lagrange, der 1958 für Jacques Tatis „Mon Oncle“ die Villa Arpel schuf. Die Architekten waren empört über die Persiflage der heiligen „Wohnmaschine“. Lagrange, Sohn eines Werkarchitekten von Citroën, Bruder eines Architekten und verheiratet mit der Tochter von Gustave Perret, der mit seinem Bruder Auguste ein Pionier des Stahlbetonbaus war, wehrte sich: „Das war keine Karikatur!“ Und tatsächlich, wer sich die säuberlichen Fassadenaufmaße anschaut, wer das im Maßstab 1:10 vom Pariser Architekturmuseum nachgebaute Modell der berühmten Filmvilla umschreitet, der glaubt an eine „authentische“ Planung: Lagrange blätterte dafür internationale Fachzeitschriften seiner Zeit durch und holte aus den neuen Traumhäusern das Nonplusultra für die Filmkulisse heraus.

Der weiß-graue Kubus der Villa Arpel mit seinen großen Glasfenstern, Lamellen und Bullaugen würde heute ohne weiteres als „Klassiker der Moderne“ unter Denkmalschutz gestellt und restauriert werden. Und die Gartenanlage mit ihren geometrischen Mustern aus farbigen Kieseln und Glas, mit gewundenen Wegen und weiten Trittsteinen, mit Spalierbäumen und Delphin-Springbrunnen würde zweifelsohne einen Preis für Landschaftsarchitektur gewinnen! Ganz kritik- und humorlos. Entsteht die Komik nur, weil der Mensch in der durchrationalisierten Umwelt nicht funktioniert? Wie glaubwürdig ist eigentlich ein Komödiant mit zu kurzen Hosen und Ringelsocken als Architekturkritiker und Analyst des urbanen Lebens?

Diesen Fragen geht die vom Institut francais d’architecture (Ifa) erarbeitete Ausstellung „Die Stadt des Monsieur Hulot – Jaques Tatis Blick auf die moderne Architektur“ nach, die zur Zeit im Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne gastiert. Anhand von Skizzen, Standbildern, Produktionsaufnahmen, Blätterbüchern und den beiden Filmen „Mon Oncle“ (1958) und „Playtime“ (1967) wird der gewohnte Blick von der Situationskomik auf die Kulisse gelenkt. Ein filmischer Schwenk, der sich lohnt, denn bei aller nostalgischen Verklärung des lebendigen „alten“ Paris im Gegensatz zu den neuen Trabantenstädten und Bürovierteln der rasanten Wirtschaftswunderjahre „Trente Glorieuses“ überrascht die subtile Beobachtung und die Weitsicht von Regisseur und Filmarchitekt. Was das kongeniale Team Tati/Lagrange in den Filmen „Mon Oncle“, „Playtime“ und „Trafic“ (1971) zeigen, geht weit über das hinaus, was deutsche Architekturkritiker zur selben Zeit mit Vehemenz attackierten: Die „große Landzerstörung“, die „Unwirtlichkeit der Städte“ oder den „industriellen Faschismus“. Die humoristische Handlung und die fantastischen, schrittgenauen Filmkulissen balancieren Unbehagen und Faszination an der Moderne aus. Die humoristische Architekturkritik erlaubt sich zu schielen, wie die Bullaugen der Villa Arpel.

Und so ist die Ausstellung nicht nur retrospektiv; sie konfrontiert nicht nur die Leitsätze aus der Charta von Athen (1933), die Le Corbusiers 1943 als Bibel der „funktionellen“ Stadt veröffentlichte, mit dem filmischen Chaos, das Tati anrichtet. Vielmehr lässt sie auch an aktuelle Hochhauspläne mitten im alten Paris denken. Die Globalisierungsdebatte scheint erst jetzt ernst zu werden. Und das automatisierte, intelligente, lernfähige Haus gilt heute wieder als Optimum des leichten Lebens.

Schon bevor La Defense entstand haben Tati und Lagrange für „Playtime“ einen Central Business District erfunden. Die 15.000 Quadratmeter Kulisse aus 50.000 Kubikmetern Beton, 4 Quadratkilometern Kunststoff, 1200 Quadratmetern Glas und sehr viel Pappe brachten dem Unternehmer Tati den Ruin. In dieser cleanen, auf Hochglanz polierten Bürostadt existiert das alte Paris nur noch als Spiegelreflex. Und die Plakate im hypermodernen Flughafen Orly (1961) werben für City-Reisen weltweit mit ein und demselben Hochhaus, das nur aus verschiedenen Perspektiven gezeigt wird.

Apropos Orly, dieses Gesamtkunstwerk aus Glas, Marmor, Aluminium und Resopal – erscheint es nicht in der ersten Kameraeinstellung wie ein Krankenhaus? Und wo wir doch gerade diese Bauwerke musealisieren, ist das eine Architekturkritik mit der wir noch umgehen können? Denn jener Blick auf das Großraumbüro mit seinen gläsernen, grünlich schimmernden Service-Inseln – ist es nicht perfekt designt? Würde die Standardedeleinrichtung USM-Haller nicht wunderbar reinpassen? Können wir lachen, wenn sich die sachliche Ordnung als Labyrinth entpuppt? Oder lachen wir doch nur über das Clowneske eines Menschen, der aus dem Holozän kommt? Haben wir die ästhetischen Werte der Moderne nicht längst akzeptiert? Nein, diese Architektur ist nicht komisch – sie hat Bestand. Doch früher als mancher Architekturkritiker hat Tati die Auswirkungen der gläsernen Architektur erkannt, als sie noch nicht inflationär gebaut wurde: Arbeiten und Leben in der hell erleuchteten Vitrine – das ist das Resultat fabelhaft „demokratischer“ Transparenz. Aber bietet die steinerne Lochfassade eine bessere Alternative? Die Ausstellung ist keine Werkschau über den César-gekrönten Regisseur Tati, es ist eine Nachhilfestunde in genauer Beobachtung. Tati meinte: „Die Leute beobachten nicht genug … wenn man genau beobachtet, wird alles anders.“

Anders – und irgendwie komisch. Dabei entdeckt man einen nie ernst genommenen Architekten der gloriosen dreißig Fortschrittsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Lagrange. Er hat, bevor er zu Tati kam, als Künstler für die Terrassenbemalung des Tour Albert, des ersten Hochhauses von Paris gesorgt; hat Mosaike für die Wohnanlage in Rillieux-Crépieux in Ain, Fliesendekore für Hochschulgebäude und Fußbodenbeläge für den Bahnhof Montparnasse entworfen. Die Nachkriegsmoderne ist ohne Kunst am Bau nicht zu denken. Auch dies ein Symptom für die Condition humaine in der Moderne. Lagranges Filmarchitekturen jedenfalls hätten auch in der Realität Furore gemacht – und wären heute Denkmal.

Bis zum 2. Mai. Katalog 12 €