Vergangenheit im Stau

Für Syrenkas und Wartburgs nur Verachtung übrig: Pawel Huelle erzählt in seinem neuen Roman „Mercedes-Benz“ eine polnische Familiengeschichte – und schwärmt dabei für Bohumil Hrabal

von SEBASTIAN HANDKE

Gibt es eigentlich Serpentinen in Polen? Man möchte meinen: ja. Zumindest wenn man das neue Buch des Polen Pawel Huelle zur Hand nimmt. „Mercedes-Benz“ heißt es, und die Sätze schlingen sich darin über die Seiten, als gelte es, die freie Fahrt mit dem Mercedes 170, der dem Großvater gehörte und die damals wohl noch möglich war, ins Buch zu übersetzen.

Dabei kann dort, wo wir uns befinden, von flüssiger Fahrt nicht die Rede sein. Danzig ist ein einziger großer Stau, und diesem Umstand verdanken wir überhaupt erst den Anstoß zu der Geschichte, die hier erzählt wird. Denn als der Erzähler in seiner ersten Fahrstunde gleich mal selbst den Verkehr aufhält, die Straßenbahn 13 sein Gefährt nur um einen schmalen Streifen Luft verschont und sich schließlich eine fäusteschwingende Meute daranmacht, ihren ganzen Frust über die verkehrspolitischen Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des Kommunismus an ebenjenem Auto auszulassen (das leider kein Mercedes ist, sondern nur ein kleiner Fiat), fängt der sich in auswegloser Situation Wähnende an zu erzählen. Und weil das nicht nur seine Furcht beruhigt, sondern auch seiner Fahrlehrerin so gut gefällt, hört er damit erst 160 Seiten später wieder auf, als ein tschechischer Dichter beim Taubenfüttern in den Tod stürzt.

Pawel Huelle ist einer der bekanntesten Autoren Polens. Sein Debütroman „Weiser Dawidek“ wurde 1987 europaweit als literarische Sensation gehandelt. Die Sehnsuchtsstadt Danzig blieb seitdem die Projektionsfläche, auf der Huelle eine Art polnischen magischen Realismus, eine „Poesie der Vergangenheit“ entstehen lässt, weil die Geschichte der ehemaligen Hansestadt für ihn die ganze Tragödie des Zweiten Weltkriegs an einem Ort konzentriert. Erinnerung und Vergänglichkeit sind die Themen des ehemaligen Solidarność-Aktivisten, und seine Bücher schämen sich nicht für ihren hohen Anteil an Nostalgie. Huelles Sprache ist auch in seinem neuen Buch mindestens so gut geölt, wie es ein Mercedes-Benz 170 sein sollte, dabei stets heiter anekdotisch oder balladesk. Jeder Pole ein Schlitzohr, so kommt es einem vor.

Huelle verwebt die eigene Familiengeschichte mit der Geschichte Polens, von der Blütezeit zwischen den Kriegen über die deutsch-russische Besatzung und den Sozialismus bis zur ernüchternden Stagnation nach der Wende. (Der Aufschwung der letzten Jahre fehlt wohl deshalb, weil jener besagte tschechische Dichter, der den Erzähler am Ende verstummen lässt, schon 1997 sein Ende findet.) Schließlich muss es aber eben auch in „Mercedes-Benz“ um Deportation und Massenmord gehen, und dann ist diese Leichtigkeit, mit der eben noch so wunderbar die Auswirkungen eines zu stark geratenen Joints geschildert wurden, einfach, na ja, ein wenig zu leicht. Pawel Huelle kann wohl nicht anders, als brillant zu fabulieren.

So wird also der Fiat der schönen Fahrlehrerin Frau Ciwle auf seiner stockenden Fahrt durch Danzig zur Zeitmaschine. Der Redefluss des Schülers stockt nur selten bei der Entfaltung einer endlosen Kette heiterer Anekdoten, deren Glieder zwanglos durch zwei Leidenschaften zusammengehalten werden: für Automobile aus schwäbischer Herstellung und für einen tschechischen Dichter, der aus dem Fenster fiel. Da gibt es seine Großmutter, die in einem Citroën auf einem Bahnübergang stehen bleibt, wobei der folgende Totalschaden einen britischen Großauftrag an polnische Lokomotivhersteller zur Folge hat. Dann die Ballonjagd, die stets der Großvater gewinnt, weil er seinen Mercedes zur mobilen Wetterstation umrüstet. Im Krieg ist er als unfreiwilliger Geheimbote zwischen den Linien der deutsch-russischen Front unterwegs, bis sein deutsches Auto von einem russischen Kommissar mit dem nicht ganz unbekannten Namen Chruschtschow konfisziert wird.

Während des Sozialismus wiederum baut sein Sohn in aller Heimlichkeit das alte Modell zusammen und stellt es seiner Frau als Überraschung vor die Tür. Den sozialistischen Syrenkas und Wartburgs war er bis dahin mit entschlossener, Bus fahrender Verachtung begegnet. Denn nicht jedes vierrädrige, durch einen Motor angetriebene Gefährt verdient den Namen Auto. So wie keinesfalls jeder, der von einer Tribüne herunterspreche, deswegen auch gleich ein Staatsmann sei.

Der Dichter übrigens, der am Ende umkommt, heißt Bohumil Hrabal, und dieses Buch ist nichts anderes als eine schwärmerische Hommage an den „traurigen König der tschechischen Literatur“. Daher auch die langen Sätze.

Pawel Huelle: „Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal“. C. H. Beck, München 2003, 160 Seiten, 17,90 €