Der Blick auf die Augen der Überlebenden

„Jüdische Berliner Leben nach der Schoa“ – eine Ausstellung im Centrum Judaicum an der Oranienburger Straße in Mitte will den Überlebenden zu später Stunde ein Denkmal setzen. Die meisten von ihnen zweifeln, dass die Deutschen etwas aus den Verbrechen ihrer Vorfahren gelernt haben

„Man wird oft gefragt: Wo war Gott? Ich frage immer: Wo waren die Menschen?“

Die Gesichter erzählen alles. Im Ausstellungsraum des Centrum Judaicum blickt man von einer Art Empore hinab auf großflächige Fotografien alter Menschen. Der Fotografin Elke Nord sind Ikonen gelungen von Frauen und Männern, denen Geschichte die Gesichtszüge gezeichnet hat. In den skeptischen, wachen, nur selten lachenden Augen sind die Leiden zu erahnen, die sie gesehen haben. Es sind die Augen von Überlebenden.

„Jüdische Berliner Leben nach der Schoa“, so heißt die Ausstellung, die am Montagabend im Beisein von Prominenz wie Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) im Centrum Judaicum eröffnet wurde. Der Leiter des Zentrums unter der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße, Hermann Simon, machte in seiner Begrüßungsrede auf das Wortspiel aufmerksam, das der Ausstellungstitel, in Versalien geschrieben, erlaubt: „Jüdische Berliner leben nach der Schoa“ – so sei der Titel auch zu lesen.

Vorgestellt werden in der Ausstellung die Lebensläufe von 14 Jüdinnen und Juden, die den Massenmord der Nazis überlebt und ihren Lebensmittelpunkt in Berlin gefunden haben. Der geschäftsführende Direktor der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“, Andreas Nachama, hat sie mit Ulrich Eckhardt zusammengestellt, der lange Jahre Intendant der Berliner Festspiele war und jetzt als Professor an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in der Charlottenstraße in Mitte wirkt.

Nachama war von 1980 bis 1993 leitender Mitarbeiter der Berliner Festspiele. Mit Eckhardt verbindet ihn eine Art väterliche Freundschaft. Tatsächlich hat die Ausstellung etwas von einem Familienalbum: Nachamas Mutter Lilli erzählt ihre Geschichte. Ebenso Simons Vater Heinrich. Wie schon bei Nachamas und Simons Buch „Juden in Berlin“, zusammen mit Julius Schoeps veröffentlicht vor zwei Jahren, ist in der Ausstellung der Wille zu erkennen, der Überlebenden-Generation, ihren Vätern und Müttern, „noch einmal zu später Stunde“, wie Nachama im Begleitbuch schreibt, ein Denkmal zu setzen: ein Gedenken an die Zeit des deutschen Judentums, das mit der Schoa sein Ende gefunden hat.

Zu dieser traurigen Geschichte passt die Nüchternheit der Ausstellung: Gezeigt werden ein paar Dias zur Situation der Juden und der Stadt in den ersten Jahren nach dem Krieg. Hinzu kommen die Fotos Elke Nords. Schließlich gibt es noch ein paar kurze Tonbandaufnahmen aus den Interviews, auf denen die Einzelgeschichten der Porträtierten beruhen. Diese Berichte, wiedergegeben in der Ich-Form, kann der Besucher nachlesen. Das ist alles, und es ist ziemlich spröde. Es verlangt viel von allen, die sich für diese Lebenserzählungen interessieren. Zu befürchten ist deshalb, dass diese Ausstellung unter Jugendlichen nicht gerade der Renner wird.

Dabei ist einiges zu lernen: Da ist die ergreifende Geschichte Ernst Cramers, der 1913 geboren wurde. Nach der Pogromnacht von 1938 kam er in das Konzentrationslager Buchenwald, konnte auswandern in die USA und kehre als amerikanischer Soldat 1945 nach Deutschland zurück: „Ich bin wahrscheinlich der Einzige – ich habe jedenfalls niemanden sonst gefunden –, der sowohl Gefangener in Buchenwald als auch später ‚Befreier‘ gewesen ist“, erzählt er. Nach dem Krieg wurde Cramer Bürochef des Verlegers Axel Springer. Er hat sein Leid und sein Erleben intellektuell zu verarbeiten versucht: „Der liebe Gott war immer bei mir. Das heißt, nicht immer, sonst hätte er meine Eltern nicht … Aber nicht Gott hat meine Eltern umgebracht, sondern Menschen. Das darf man nie vergessen. Man wird so oft gefragt: Wo war Gott? Ich frage immer: ‚Wo waren die Menschen?‘“

Meist bodenlos traurige, aber auch absurde, tragikomische Geschichten erzählen die Überlebenden aus der Zeit der Verfolgung. Lilli Nachama etwa, die mit falschem Pass in der Illegalität überlebte, erzählt, wie sie mit einer Freundin in einem Wiener Hotel den Silvesterabend 1944/45 verbrachte – in Begleitung von 30 bis 40 SS-Männern, die auf den Führer anstießen und sich darauf freuten, bald alles „Gesocks“ umgebracht zu haben. Lilli und ihre Freundin flogen nicht auf: „Wir waren jung, waren schön und blond. Und mussten eiserne Nerven haben“, erinnert sich die Witwe des Kantors Estrongo Nachama, „verloren ist, wer Angst zeigt.“

Soll man den Ausstellungsmachern im Centrum Judaicum vorwerfen, dass sie angesichts solcher Geschichten das eigentliche Motto der Schau etwas aus dem Blick verloren haben: das Leben nach der Schoa? Sicher, alle Interviewten erzählen von der Zeit nach 1945, aber das bleibt – vielleicht notgedrungen – meist etwas blass. Viele der Porträtierten führten nach dem Krieg ein recht normales Leben, über das es oft nicht allzu viel zu erzählen gibt. „Sein wie die anderen – fliehen in die Geborgenheit der Familie, der Gemeinde, der Synagoge. Bürgerliches Ambiente, ästhetisches Verhalten, Wahrung von Stil und gepflegtem Äußeren sind Ausdrucksformen des Widerstands gegen erlittene und hautnah erfahrene Herabwürdigungen und Verluste“, so erklärt Nachama dieses oft sehr zurückgezogene Leben.

Die Ausstellung zeigt Berliner und Berlinerinnen, die fast einhellig daran zweifeln, dass die Deutschen etwas aus den Verbrechen ihrer Väter und Großväter gelernt haben. Es sind Menschen, die das Trauma der Schoa innerlich zu Fremden auf dieser Welt gemacht hat. Es sind Frauen und Männer, die uns bald sehr fehlen werden.

„JÜDISCHE BERLINER LEBEN NACH DER SCHOA“ – eine Ausstellung im Centrum Judaicum in Mitte, OranienburgerStraße 28–30; geöffnet bis zum 29. Juni 2003 jeweils So.–Do. 10–18 Uhr, Fr. 10–14 Uhr; samstags und an jüdischen Feiertagen geschlossen