Ein Rausch auf der Zunge

Der Geschmacksverstärker Glutamat, warnen Forscher, kann die Gehirnfunktionen stören und das Chinarestaurant-Syndrom auslösen. Trotzdem wird eifrig weiter gewürzt

VON HANS-ULRICH GRIMM

Oft wollte Wolfgang Becker nicht mehr leben. Wenn dieser Schmerz kam, „als ob mir einer einen Schraubenzieher an der Schläfe reinsteckt und den am Auge hin und her dreht“. Lange hat es gedauert, bis der Weinhändler aus Krefeld dahinter kam – sein „Cluster-Kopfschmerz“ quälte ihn immer dann, wenn sein Essen einen bestimmten Zusatz enthielt: Glutamat.

Glutamat ist der wichtigste Zusatzstoff der Lebensmittelindustrie und vermutlich derjenige mit den weitreichendsten Auswirkungen. Der Stoff kann eine Fülle von Beschwerden auslösen: Kribbeln am Hals, Schmerzen in Brust und Nacken, auch Kopfweh, Herzklopfen, sogar Schwindel und Muskelkrämpfe. Er kann auch zu Bauchkrämpfen führen, zu Erbrechen und Durchfall. Bei einer bereits 1979 veröffentlichten Untersuchung in den USA gaben 43 Prozent von 3.222 Befragten, die regelmäßig mit Glutamat würzen, an, unter diesen Schmerzen zu leiden.

Glutamat kann auch dick machen, es ist womöglich einer der Hauptschuldigen für die Epidemie Übergewicht in der westlichen Welt. Und: Glutamat geht auf den Geist. Es kann Hirnzellen zerstören – in hoher Dosis, aber auch schon beim normalen Verzehr durch Kartoffelchips und Tütensuppen, so meinen zumindest manche Forscher.

„Zu viel Glutamat bringt uns um den Verstand“, sagt Professor Konrad Beyreuther, Alzheimerforscher und Staatsrat in der baden-württembergischen Landesregierung. Das Risiko steige mit den Verzehrmengen. Ein Grenzwert ist jedoch nicht erwiesen. Der weltweite Absatz hat sich seit 1976 verfünffacht, auf 1,5 Millionen Tonnen im Jahr 2001. Das weiße Pulver ist in nahezu allen Fertigprodukten enthalten. Es schmeckt würzig, humani, so Japaner, „köstlich“. Es sei „das höchste der Gewürze“, schwärmte ein Genussexperte in der FAZ: „Alles, was schmeckt, schmeckt seinethalben. Bis zum Rausch glüht und blüht es auf der Zunge.“

Der so genannte Geschmacksverstärker ist beliebt bei Food-Konzernen, weil er Geschmack billig macht. Der Preis ist das Maß, vorgegeben vom Billigchampion Aldi. Und immer wieder gibt es offizielle Erklärungen, nach denen Glutamat unbedenklich sein soll. Das verkündeten noch im vergangenen Sommer die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und das Bundesinstitut für Risikobewertung. Sie stützten sich dabei auf ein Wissenschaftlertreffen, das – was bislang nicht bekannt war – von der Glutamatindustrie bestellt und bezahlt wurde, das so genannte Hohenheimer Konsensusgespräch, das auch von Firmen wie Nestlé und Knorr gern als Beleg für die Unbedenklichkeit des Zusatzes angeführt wird.

In den USA ist der Stoff schon seit 1959 als Lebensmittelzusatz zugelassen. Er wird von der EU in die sicherste Kategorie der Additive eingestuft. Doch viele schädliche Wirkungen haben die Forscher erst lange nach der Zulassung festgestellt. 1968 beschrieb der Arzt Dr. Robert Ho Man Kwok in einem Brief an das New England Journal of Medicine erstmals das „merkwürdige Set von Symptomen“, das später als „Chinarestaurant-Syndrom“ berühmt werden sollte. Etwa zur gleichen Zeit kam heraus, dass Glutamat bei Versuchstieren in hoher Dosis zu Hirnschäden führt.

Dabei ist Glutamat eigentlich eine „gute“ Substanz. Der Mensch braucht es – als Botenstoff im Gehirn beispielsweise. Er ist in vielen Nahrungsmitteln von Natur aus enthalten: in Eiern, Tomaten, Rindfleisch. Selbst Muttermilch enthält 22 Milligramm pro hundert Gramm, Sojasauce 1.090 Milligramm, Parmesan gar 1.200. Zum Gift wird es erst im Übermaß.

Schlechte Wirte nennen es „Maria Hilf“. Es ist in „Hühnersuppe mit Nudeln“ von Knorr enthalten, in „Chicken Noodle Soup“ von Campbell’s, in vielen Maggi-Erzeugnissen wie „Rindsbouillon“ und „Pastaria Spaghetti Bolognese“, auch in der „Fünfminutenterrine“. Es ist in vielen Schinken drin, in fast jeder Salami, in Leberwurst, Fleischsalat und in „Chipsletten“ von Bahlsen.

„Würze“ ist eine der vielen Bezeichnungen, unter denen Glutamat auf dem Etikett erscheint. Dort kann auch „Natriumglutamat“ stehen, E 621 bis E 625, oder „Geschmacksverstärker“. Es kann auch unter den Bezeichnungen „Aroma“, „Carrageen“, „Maltodextrin“, „Weizenprotein“ oder „Trockenmilcherzeugnis“ auftauchen. In Ökotütensuppen ist es oft unterm Tarnkäpplein als „Hefeextrakt“ präsent.

Das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat „keine Bedenken“ gegen die gelegentliche Verwendung geringer Mengen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) meint sogar, selbst bei häufigem Verzehr größerer Mengen sei „kein schädigender Einfluss“ zu erwarten. Beide stützen sich auf die Ergebnisse der großen Glutamatkonferenz von 1996 unter Leitung des Hohenheimer Professors Hans Konrad Biesalski. Sie befanden, Glutamat stünde in „keinem Widerspruch zu einer gesunden Ernährung“ und habe „auch in hohen Dosen keine spezifischen Nebenwirkungen“.

Das Treffen fand auf Wunsch des Glutamat-Weltmarktführers Ajinomoto statt, vermittelt über den Glutamat-Informationsdienst im hessischen Kronberg, bezahlt vom Verband der europäischen Glutamathersteller COFAG (Comité des Fabricants d’Acide Glumatique de la Communauté Européenne). Wobei die Professoren kein Geld bekommen hätten, versichert Organisator Biesalski.

Biesalski hat den Konsenshandel mittlerweile professionalisiert und dabei eine Firma namens FEP Science in Esslingen zwischengeschaltet, die seiner Gattin Ursula gehört. Der Professor stellt dann gewissermaßen amtliche wissenschaftliche Bescheinigungen aus, das „Konsensuspapier“.

Die Untersuchungen, auf die sich Biesalskis Glutamatrunde stützte, waren allerdings nicht immer seriös. Bei einer Studie beispielsweise, die die Unschädlichkeit von Glutamat beweisen sollte, kam eine Vergleichssubstanz zum Einsatz, die einen ähnlichen Effekt hat: der Süßstoff Aspartam. Ein klarer Verstoß gegen die Grundregeln von Doppelblindstudien, bei denen neben der zu prüfenden Substanz ein wirkungsloser Stoff verabreicht wird, das „Placebo“.

Hinzu kommt ein weiteres zentrales Entlastungsargument, das ebenfalls auf tönernen Füßen steht: Experten behaupten, dass die Blut-Hirn-Schranke die grauen Zellen vor zuviel Glutamatzufuhr bewahre. Nicht alle Forscher teilen diese Meinung. Die Schranke sei keineswegs eine absolute Barriere, hält der Heidelberger Hirnforscher Konrad Beyreuther dagegen. Sie sei in der Kindheit noch nicht voll ausgebildet und überdies von der Tagesform des Besitzers abhängig. Viele Krankheiten, darunter ausgerechnet Alzheimer, könnten beeinflusst werden. Beyreuther sei „ganz sicher, dass es durch Glutamat bei manchen Menschen Schäden gibt“. Seine Frau habe ebenfalls unter dem Chinarestaurant-Syndrom gelitten und sich „permanent erbrochen.“

Entgegen dem Hohenheimer Glutamatkonsensus bleiben viele Wissenschaftler skeptisch. US-Forscher Russel L. Blaylock vermutet, dass Glutamat aus Industrienahrung die natürliche Gewichtsregulation entgleisen lässt. „Übergewicht ist eine der konstanten Folgen des Glutamatsyndroms.“ So seien glutamatgefütterte Versuchstiere in „grotesker Weise“ dick geworden.

Glutaminsäure wird auch gezielt an Menschen verabreicht: Pillen wie „Gluti-Agil“ oder „Glutamin-Verla“ sollen die geistige Leistungsfähigkeit verbessern – und müssen dafür natürlich die Blut-Hirn-Schranke durchdringen. Diese Pillen enthalten eine Glutamatdosis, die etwa der einer Packung Knabberchips vergleichbar ist. Auf dem Beipackzettel wird vor Nebenwirkungen gewarnt: „motorische Unruhe“, „Bewegungsdrang“, „Schlafstörungen“. All das ist heute weit verbreitet, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, man nennt es: Hyperaktivität. Auf den Chipspackungen im Supermarkt, auf Quick-Lunch-Bechern und Beutelsuppen fehlt eine solche Warnung.

HANS-ULRICH GRIMM, 48, ist Autor der Bestseller „Die Suppe lügt“ und „Aus Teufels Topf“. Er lebt in Stuttgart