CHIRACS SYMPATHIEBEZEUGUNGEN FÜR JUPPÉ DESTABILISIEREN DIE JUSTIZ
: Die geschockte Republik

Für Alain Juppé war die Verurteilung in einer Schmiergeldaffäre ein „Schock“. Gerechnet hatte er mit einem Tadel oder einer bloß symbolischen Sanktion. Schließlich war Frankreichs Justiz bislang stets nachsichtig, wenn es um Finanzdelikte führender Politiker ging. Auch das Justizministerium half manchmal nach und brachte allzu eifrige Untersuchungsrichter zur Räson – zur Staatsräson. Denn für die kleine Kaste der politischen Elite ist es eine ausgemachte Sache, dass für Frankreich allemal gut ist, was ihnen und ihrer Macht nützt.

Darum waren die Pariser Gaullisten so perplex, als ein Gericht im Vorort Nanterre – unbeirrt von Pressionen und Einschüchterungsversuchen – ganz einfach seine Aufgabe erfüllte und die 27 Angeklagten verurteilte. Nun gibt Ex-Premier Juppé die Rolle des Märtyrers, gerade so, als hätte nicht er, sondern das Gericht gegen die Spielregeln verstoßen. Seit Tagen protestieren seine Parteifreunde und Sympathisanten gegen den angeblich unfairen Entscheid. Sie betrachten Delikte der Parteifinanzierung weiterhin als Kavaliersdelikt.

Doch schockierend sind nicht die Urteile von Nanterre gegen Juppé und seine Komplizen, sondern die Fakten, die im Verlauf der Verhandlungen enthüllt wurden. Die vom „Cavaliere“ im Elysée-Palast dirigierten Sympathiebezeugungen für Juppé sind darum eine Kampagne zur Destabilisierung der Justiz. Der Staatschef hat noch Verwendung für Juppé – wenn nicht als Thronfolger, dann wenigstens weiterhin als Blitzableiter. Der einst designierte „Dauphin“ muss auf Chiracs Wunsch auf seinem Posten bleiben, als wäre (fast) nichts passiert. Das Verdikt von Nanterre, das erst einen kleinen Einblick in die quasi mafiösen Finanzierungspraktiken von Chiracs Partei lieferte, wird so zum bloßen Karriereknick relativiert.

Manche Franzosen und Französinnen fühlen sich allerdings heute in ihrem Verdacht bestärkt, dass sie nicht im Land der Gleichheit und Gewaltenteilung, sondern in einer Bananenrepublik leben. In ihr gilt zweierlei Maß: Ein Mofa-Dieb wandert für ein Jahr hinter Gitter, ein Politiker, der Millionen unterschlägt, darf am Fernsehen über seinen verletzten Stolz jammern und sein Recht auf ein Comeback fordern. RUDOLF BALMER