Im Kaleidoskop des Krieges

Rückkehr zum Text: Hans-Werner Kroesinger bringt am Stuttgarter Schauspiel „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus auf die Bühne

Bilder vom Krieg und vom Terror bringt uns im Medienzeitalter das Fernsehen hautnah und hyperrealistisch direkt ins Wohnzimmer. Da kann – sollte man meinen – das Theater nicht mithalten. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet eine szenische Lesung es vermag, intensivste Schreckensszenarien vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

In Karl Kraus’ Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“, einem allein schon vom Umfang her gigantischen Kaleidoskop des Ersten Weltkriegs, werden die allein gehörten Erscheinungen von wechselnden Kriegsschauplätzen zu mal realistischen, mal expressionistisch aufgeladenen, dann wieder surreal zugespitzten Reportagen. Wir befinden uns an dieser Stelle bereits im fünften Akt des Stücks und im dritten Teil von Hans-Werner Kroesingers szenischer Einrichtung desselben am Stuttgarter Schauspiel. Der Spezialist für dokumentarisches Theater hat in Stuttgart in der vergangenen Spielzeit bereits die Stammheimer RAF-Prozesse in einem Theaterabend anschaulich werden lassen. Und diese Verbindung von Anschaulichkeit und Analyse gelingt ihm auch hier. Die 220 Szenen des 1922 in Buchform veröffentlichten monumentalen Stücks, das in einer Montage unterschiedlichster stilistischer und sprachlicher Formen auf die Straßen Wiens zwischen 1914 und 1918, in Wohnzimmer, Amtstuben, Gasthäuser, Militärquartiere, Kirchen, Spitäler und an die Front führt, sind kaum in kompletter Länge spielbar. Der österreichische Schriftsteller, Publizist und Satiriker hatte zu seinen Lebzeiten einer szenischen Umsetzung nicht zugestimmt, wohl aber selbst daraus vorgelesen.

Kroesinger hat zusammen mit seinen Dramaturgen Christian Holtzhauer und Stéphanie Samesch eine komprimierte Fassung des Mammutwerks erstellt. Aber auf vier Stunden Spieldauer inklusive Pausen kommt die Marathon-Lesung trotzdem. Zu den wenigen Mitteln, mit denen der Regisseur den szenischen Vortrag der 14 Schauspieler unterfüttert, gehört die Veränderung der Raumsituation. An langen Tischen wie in einem Wirtshaus im Foyer des Depot-Theaters sitzend, wird das Publikum von den Schauspielern eingekreist und verfolgt die Kriegseuphorie der Militärs und der Bevölkerung in Wien. Dann geht es in den Theatersaal, wo einen das Donnern von Gewehrfeuersalven vom Band empfängt. Die Darsteller nehmen an weißen Tischen auf der Bühne Platz. Teil zwei und drei, in denen das Geschehen an der Front sich bis zur Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten zuspitzt und der Krieg auch den Alltag in Wien bestimmen, werden ebenfalls im Theaterraum aufgeführt.

Ob der puristischen Szene liegt es fast allein an den Schauspielern, das Panoptikum von Figuren und Situationen mit der dramatischen Kraft ihres Vortrags lebendig werden zu lassen. Und das machen sie großartig. Gelesen wird in wechselnden Rollen. Nur das Alter Ego des Autors, die Figur des skeptischen Nörglers, der das ausufernde Sammelsurium von Szenarien in der Analyse bündelt, übernimmt immer der Schauspieler Elmar Roloff, seinen Widerpart im Disput, den Optimisten, gibt Boris Burgstaller. Die scharfsinnige Analyse, mit der Karl Kraus das Primat von materialistischen und ökonomischen Interessen, die Funktionsweisen medialer Propaganda, das Versagen der militärischen, politischen und gesellschaftlicher Eliten, die Manipulierbarkeit der Massen und nicht zuletzt die egozentrische Kleingeistigkeit des Menschen schonungslos offenlegt, scheint so am Beginn des 21. Jahrhunderts nichts von ihrer Relevanz eingebüßt zu haben.

Hans-Werner Kroesinger und sein Team schälen sie aus dem Konvolut der Textvorlage heraus, in dem sie den Zuschauer intellektuell und von der Konzentration her fordern, aber auch mit dem Gefühl von Erkenntnis belohnen. Denn nichts bebildert zu sehen und allein an den eigenen Verstand verwiesen zu werden, das ist am Ende auch ein schmeichelhafter Vorgang.

CLAUDIA GASS