Die Ausgebootete

Gretel Bergmann schrieb unfreiwillig olympische Sportgeschichte, wenn auch nicht als Hochspringerin. Der NS-Sport benutzte sie als Alibijüdin – und betrog sie am Ende um die Teilnahme an der Olympiade von Berlin 1936

von JÜRGEN ROOS

Sie fährt noch Auto. „Wenn ein grauer, rostiger alter Wagen mit einer grauen, rostigen alten Lady vorfährt“, hatte Margaret Lambert am Telefon gesagt, „das bin ich.“ Warten also. An der Endstation des F-Trains in der 179. Straße des New Yorker Stadtteils Queens. Es ist viel Verkehr an diesem Freitagnachmittag, und ein paar Minuten später biegt ein Toyota um die Ecke, wohl an die zwanzig Jahre alt, grau und rostig. Die alte Dame, 89, silbergrau und von einer bezwingenden Energie, winkt freundlich und wirft die Beifahrertür auf. „Bis zu meinem Haus sind es nur ein paar Minuten“, sagt sie und gibt schon wieder Gas. Einmal rechts, einmal links und dann hinauf in eine steile Hofeinfahrt. Gute Gegend, dieses Jamaica, New York. Schmucke Einfamilienhäuser mit großen Gärten. Könnte direkt irgendwo im Schwäbischen sein – dort, wo Margaret Lambert aufgewachsen ist.

Die 21 Stufen zum Haus hinauf nimmt sie mit Schwung, öffnet die Tür und sagt: „Come in!“ In diesem Haus wird Englisch gesprochen. Kein Deutsch. „Ich verstehe es noch, Deutsch“, sagt sie. „Aber ich spreche es nicht mehr. Zu viele Erinnerungen.“ Das meiste Leid, das Margaret Lambert und ihr Mann Bruno in ihrem langen Leben erduldet haben, hat mit dieser Sprache zu tun. Mit diesem Land. Mit dem sie eigentlich nie wieder etwas zu tun haben wollten.

Margaret und Bruno Lambert sind Juden. Bruno Lambert, pensionierter Arzt, hat seine Eltern und dreißig weitere Verwandte verloren, ermordet in einem deutschen Vernichtungslager. Margaret Lambert war Anfang der Dreißigerjahre unter ihrem Mädchennamen Gretel Bergmann als eine der besten Hochspringerinnen der Welt bekannt, Hitlers Handlanger brachten sie 1936 um eine so gut wie sichere Olympiamedaille. Der Hass auf dieses Land hat die meisten Jahre ihres Lebens bestimmt. „Ich habe wirklich gedacht, das hört nie auf“, sagt sie, „ich habe alles Deutsche gehasst, und ich habe geschworen, nie wieder dorthin zu gehen.“

Was für ein freundlicher Empfang. Der Tisch ist für einen kleinen Imbiss gedeckt. Schwarzes Brot, Leberwurst, Gurken. Ein abtastendes Gespräch. Ein deutscher Reporter war vorher noch nie in diesem Haus zu Gast. Wie schwer den beiden alten Leuten dieses Gespräch wohl fallen mag? Sie haben alle ihre Peiniger von damals überlebt. Adolf Hitler. Hans von Tschammer und Osten, den Reichssportführer. Leni Riefenstahl, deren Filmbilder von den Olympischen Spielen in Berlin diesen Schmerz immer wieder wachgerufen haben. „Wissen Sie“, sagt Margaret Lambert, „ich habe irgendwann gelernt, dass man junge Menschen nicht für das verantwortlich machen darf, was die Generationen vor ihnen getan haben.“

Deshalb hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Das Buch mit ihren Erinnerungen ist unter ihrem Mädchennamen im vergangenen Sommer in einem deutschen Verlag erschienen („Ich war die große jüdische Hoffnung. Erinnerungen einer außergewöhnlichen Sportlerin“, Braun Verlag Karlsruhe, 248 Seiten, 16,80 Euro). Margaret Lambert wollte damit ihren Teil dazu beitragen, dass Geschichte nicht vergessen wird.

Es ist ihr nicht leicht gefallen, denn die Erinnerungen wogen schwer. Die an die unbeschwerten Jugendjahre im schwäbischen Städtchen Laupheim in der Nähe von Ulm. An die Tage Ende Januar 1933, die ihr Leben und das ihrer Familie so plötzlich veränderten. An den Vereinsausschluss, weil sie Jüdin war. Und an die Wochen und Monate der Unsicherheit vor den Sommerspielen 1936, als die Nazis sie in die olympische Kernmannschaft beriefen, um sie dann doch kurz vor der Eröffnungsfeier mit fadenscheinigen Argumenten wieder auszubooten (siehe Randspalte).

Margaret Lambert ist sich heute noch sicher, dass sie in Berlin eine Medaille geholt hätte. „Ich denke oft daran, wie ich mich auf dem Treppchen verhalten hätte“, sagt sie. Hätte sie den rechten Arm in die Höhe halten sollen wie all die anderen deutschen Medaillengewinner? Hätte sie den Triumph ohne Hitlergruß genießen sollen? Es kam nicht dazu. Und eigentlich hatte sie es von Anfang an gewusst. An die Tage von Berlin, jene Olympischen Spiele, bei denen ihr größter sportlicher Traum zerplatzte, hat Margaret Lambert bis heute keine Erinnerung. „Für diese Tage leide ich wohl an Gedächtnisschwund“, sagt sie und lächelt dünn.

In den USA haben die Lamberts eine neue Heimat gefunden. Im Wohnzimmer ihres Hauses stehen zwei Sofas und ein Fernseher, auf dem fast ausschließlich der Sportkanal läuft. Der Blick geht hinaus in den Garten. Das Interesse am Sport ist geblieben. Bruno Lambert ist in den USA zum Baseballfan geworden. Die Leichtathletik aber ist ziemlich weit weg. Als im vergangenen August die Weltmeisterschaften in Paris stattfanden, schaltete Margaret Lambert lieber hinüber zu den US Open im Tennis. Den Hochsprung der Frauen bekam sie nur am Rande mit. „Das Drumherum, die Technik, das hat ja alles nichts mehr mit dem zu tun, wie wir unseren Sport betrieben haben“, sagt sie.

Man spürt, dass diese Frau hin- und hergerissen ist. Dass sie die Olympischen Spiele von Berlin am liebsten ein für alle Mal abgehakt hätte. Aber andererseits weiß sie genau, dass sie ohne diese Geschichte nicht die Margaret Lambert wäre, die sie heute ist.

Ein Wunder eigentlich, dass die Nazis sie 1937 ausreisen ließen. Mit vier Dollar in der Tasche erreichte sie New York und nahm jeden Gelegenheitsjob an, um ihren Mann so schnell wie möglich aus Deutschland zu holen. Sie hat ihm damit das Leben gerettet.

Erst als sie die Vereinigten Staaten erreicht hatte, wurde ihr klar, welche Rolle sie bei diesen Nazi-Spielen unfreiwillig übernommen hatte: Sie war nichts als eine Schachfigur der braunen Machthaber, um die Austragung nicht durch einen Boykott der Amerikaner zu gefährden. „Unglaublich“, sagt sie, „ich war ein Teil der Sportgeschichte.“ Freunde haben ihr später Artikel aus der New York Times gezeigt, in denen im Vorfeld ausführlich über die Situation der Juden in Deutschland berichtet worden war. Dass nicht einmal die Menschen in ihrer Heimatstadt etwas von ihrem Schicksal erfuhren, wundert sie heute nicht mehr, denn über die Erfolge und die sportlichen Leistungen von Juden durfte ja nicht berichtet werden.

Margaret Lambert ist nach all den Jahrzehnten milder geworden. Weil sich in Deutschland irgendwann doch Menschen für ihre Geschichte interessierten. Vor zwanzig Jahren hatte ein Laupheimer, der inzwischen verstorbene Burkhard Volkholz, Briefkontakt mit ihr aufgenommen; das Stadion in ihrer Geburtsstadt und eine Sporthalle in Berlin-Wilmersdorf tragen inzwischen ihren Namen. 1999 flog sie dann doch nach Deutschland. Die Deutsche Olympische Gesellschaft wollte ihr den Georg-von-Opel-Preis in der Kategorie „Unvergessene Meister“ verleihen, sogar nach Laupheim fuhr sie für ein paar Tage. Der Besuch der alten Dame verlief erstaunlich harmonisch. „Sie können mir glauben“, sagt Margaret Lambert, „wenn ich einen von den alten Nazis getroffen hätte, ich hätte ihm mitten ins Gesicht geschlagen.“

Aber es war keiner mehr da. Und die jungen Menschen, die da waren, bemühten sich nach Kräften. „Ich sah, dass viele Deutsche versuchten, die jüdische Kultur zu verstehen“, sagt sie. Und der Hass? Hat sich in den vielen Jahren in den USA relativiert. Auch dort erlebte sie Diskriminierung. Gegen Juden, gegen Dunkelhäutige. „Das soll das Land der Freiheit sein?“, fragt sie und schüttelt den Kopf. Im Restaurant wurden die Lamberts schräg angeschaut, als sie sich einmal für eine schwarze Familie einsetzten, die keinen Tisch bekam. Und Bruno Lambert wurde als Arzt gerufen, um Leuten zu helfen, in deren Wohnzimmer Hitlerbilder hingen. „Da habe ich ihn immer darum gebeten, diesen Menschen die schlimmsten Abführmittel zu verabreichen“, sagt sie.

Langsam wird es dunkel in Queens. Bruno Lambert hat sich hinlegen müssen, ihm geht es nicht so gut heute, weil ihn ein Nierenstein plagt. Immer wieder schüttelt seine Frau den Kopf. Weil immer wieder mit den Erzählungen auch die Erinnerungen kommen. „Unglaublich“, sagt sie dann, „die ganze Geschichte ist wirklich unglaublich.“ Beim Abschied bleibt Margaret Lambert noch eine ganze Weile in der Tür ihres Hauses stehen. Und winkt.

Vor ein paar Monaten ist Margaret Lambert ein zweites Mal nach Deutschland geflogen. Auf Einladung des amerikanischen Sportsenders HBO, der gerade einen Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin drehte. Die Dokumentation soll im Sommer gezeigt werden. Mit den Filmleuten ist die 89-Jährige wieder nach Laupheim gefahren, mit jungen Mädchen aus der Stadt wurden Aufnahmen im Gretel-Bergmann-Stadion gemacht.

Und in Berlin wurde ein Treffen mit der ebenfalls 89-jährigen Elfriede Kaun aus Kiel arrangiert, die mit Margaret Lambert im Olympiateam gewesen war und die später die Bronzemedaille im Hochsprung gewann (kurioserweise hatten alle Medaillengewinnerinnen die Höhe von 1,60 übersprungen). Ein Zusammentreffen, bei dem Margaret Lambert auf einen Dolmetscher verzichtete und zum ersten Mal seit 66 Jahren wieder versuchte, Deutsch zu sprechen. Es fiel ihr schwer. Über die Geschichte von damals wurde übrigens kaum geredet. „Ich glaube“, sagt Margaret Lambert, „Elfriede hatte kein Interesse daran.“

JÜRGEN ROOS, 36, ist Redakteur bei „Sonntag Aktuell“ in Stuttgart. Sein besonderes Interesse gilt der Sportgeschichte und der Rolle der Verbände in Nazi-Deutschland