Alle Augen auf Kunst

Das „Kunst aus Mitte“-Gefühl verkaufen: Zur Zeit der Kunstmesse Artforum sprießen Alternativ-Messen und Erzeugermärkte heftig aus dem Berliner Boden. Wer soll das bloß alles anschauen?

Die Berliner Liste residiert bis 2. November im Haus Cumberland am Kurfürstendamm 193–194 und ist täglich von 13 bis 21 Uhr geöffnet. Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 10 Euro.Die Preview Berlin, im Hangar 2 des Flughafens Tempelhof, ist bis 2. November täglich von 13 bis 20 Uhr auf 4.200 qm geöffnet. Sie entstand 2007, letztes Jahr kamen 12.000 Besucher. Tagesticket 10, ermäßigt 6 Euro.Mit der Ausstellung BackStop spielt die Produzentengalerie Oqbo erstmals im Konzert der Messe mit. Brunnenstraße 64, geöffnet bis 4. November, täglich von 15 bis 19 Uhr. Der Besuch ist kostenlos.

VON HENRIKE THOMSEN

Man nehme einen stilvoll heruntergekommenen Ort, eine Handvoll Galeristen, die sonst ohnehin in alten Werkstätten, Läden oder Postpavillons siedeln, und jede Menge Arbeiten mit spärlichen und alltäglichem Material, voll mit Randbeobachtungen und Subtexten – fertig ist das „Kunst aus Mitte“-Gefühl. Wie diese Marke längst unabhängig vom geografischen Viertel erzeugt wird, lässt sich bis Sonntag auf den über die Stadt verstreuten Gegenwartskunstmessen erleben, die parallel zum Artforum auf dem Messegelände schon durch ihren Ort das Versprechen geben, näher am Atem der Stadt zu sein.

Die Berliner Liste residiert am Kurfürstendamm, Preview hält im Flughafen Tempelhof die Fahne der Kunst hoch, und oqbo in Prenzlauer Berg bringen zusammen rund 130 internationale Galerien auf. Auf dem Artforum, das 2007 rund 44.00 Besucher zählte, sind diesmal 180 Galerien zu Gast. Der Gegensatz zwischen dem Messegelände und den alternativen Nebenschauplätzen schwindet freilich.

Die Berliner Liste, die sich seit fünf Jahren an wechselnden Orten präsentiert, belegt diesmal das frühere Luxushotel Cumberland nahe der Uhlandstraße. Die alte Grandezza des vom Adlon-Architekten Robert Leibnitz entworfenen Baus ahnt man allerdings nur noch in der prunkvollen hohen Lobby und auf der eleganten hölzernen Wendeltreppe. Die Zimmer selbst wurden von der Berliner Oberfinanzdirektion, die zuletzt hier residierte, mit Amtsgeist getränkt: abgehängte Decken, weiße Wände, Türschilder wie: „ODF Cottbus Zoll- und Verbrauchsabteilung, Referat Z44 Versorgung (vormals Z 122)“. Die US-Künstlerin Merlin Stillwell hat das Beste daraus gemacht: In einer Kammer arrangierte sie die übrig gebliebenen Amtstelefone und vergessene Dokumente mit dem schönen Titel „Beschäftigungstagebuch“.

Sehenswert sind auch die auf Pappkartons übertragene Streetart von CT’INK/EVOL, die Sittwells Wilde Galery aus der Chausseestraße in ihren restlichen Suiten präsentiert; außerdem die leuchtenden Menschenstudien von Gerit Koglin bei Borchert + Schelenz, die brachialen Porträts von Juha Hälikkä in der Galleria Uusitalo aus Helsinki und die Stillleben von Quintana Martelo bei C5 Colección aus Santiago de Compostela. Bei Alfred Knecht lohnen die Animationsfilme von Jochen Kuhn und ihre gemalten Vorlagen.

Die Berliner Liste versteht sich als „Entdeckermesse“, zu der auch Galerien zugelassen werden, die erst seit einem Jahr im Geschäft sind und ihre Kunst zu verträglichen Preisen anbieten. „Es gibt extrem gute Arbeiten und manches, was einem vielleicht nicht so gut gefällt“, sagt der Leiter Wolfram Völcker. Tatsächlich muss man sich für die lohnenden Funde durch eine Menge furchtbarer Arbeiten wühlen. Noch merkwürdiger wirken in diesem Ambiente Fotoaltmeister wie Nobuyoshi Araki und Joel Peter Witkin (bei CA’ di FRA’ aus Mailand). Doch Völcker freut sich selbst darüber, dass eine Galerie Neo-Rauch-Zeichnungen im Gepäck hat, denn inzwischen käme auch das „Toppublikum“. Wer sein Publikum generell ist, dazu kann er keine Angaben machen.

Bei Preview – The Emerging Art Fair atmet der Hangar 2 des Flughafens Tempelhof nur von außen coole Industrieaura, das Innere ist im üblichen Messelook mit weißen, hell erleuchteten Kojen gehalten. Manche Galerien wie Krammig & Pepper aus der Torstraße wären gern beim Artforum dabei gewesen, wurden aber abgelehnt. „Warum? Das müssen sie die Jury fragen“, sagt Andreas Krammig. Das Programm mit Fotografien von Carsten Gliese, die raffiniert mit architektonischen Lichteffekten und der erotischen Ambivalenz leerer Räume spielen, kann jedenfalls nicht der Grund sein.

Doch Preview ist kein schlechtes Umfeld, es herrscht ein einheitlich hoher Standard. Gewitzt sind Loan Lindners Grafiken bei Mixed Greens aus New York, die die Lebensläufe und Ausstellungsnachweise berühmter Künstlerinnen wie Louise Bourgeois sorgfältig auf Büttenpapier abschrieb – ein Verweis, dass im Kunstgeschäft die Referenzlisten oft mehr zählen als die Arbeiten. Die junge Friederike Hartmann montierte sich selbst Seite an Seite mit Andy Warhol in einen vergessenen Videofilm des Altmeisters (zu sehen bei KraskaEckstein aus Bremen). Wie ein Projekt von Roman Burchhart zu Renovierungsarbeiten in einer Hamburger Moschee dafür sorgen könnte, dass nahe dem Hauptbahnhof bald zwei gemusterte Minarette prangen, dokumentiert der Stand von Artfinder.

Die Initiative oqbo schließlich, nicht zu verwechseln mit dem Immobilienentwickler ORCO, der das Haus Cumberland für die Berliner Liste öffnete, bevor das Hotel in ein Büro- und Einkaufszentrum umgebaut wird, ist ein Zusammenschluss von mehr als 50 Künstlern, die sich in der Ausstellung BackStop als direkter Erzeugermarkt präsentieren. Die Positionen sind meist verhalten und ironisch: Eine Schaukel, auf deren Brett kleine Kakteen eingelassen sind, stammt von Stefan Saffer. Ruprecht Dreher hat aus Euroscheinen dekorative Silhouetten geschnitten.

Viele Objekte bewegen sich auf der Grenze zum Design, politisch konzeptuell dagegen ist „Vote & Voices“ von Marion Kreißler und Martin Conrath: Uniformentwürfe mit Bezug auf Barack Obamas Wahlkampagne. In dieser Ader zwischen minimalistischer und engagierte Kunst, von Understatement und Grellheit steckt ein echter Tropfen Berliner Szeneblut. Die Räume von BackStop in der Brunnenstraße sind völlig belanglos, aber die ausgestellte Kunst braucht die Krücke eines aufregenden Ambientes nicht.