Zivilblech und Kriegsmetall

Zu Besuch bei einem Bombenentschärfer

von GABRIELE GOETTLE

Hans-Jürgen Weise, Bombenentschärfer, technischer Einsatzleiter West d. Staatlichen Munitionsbergungsdienstes d. Landes Brandenburg. 1950–1958 Besuch d. Friedrich-Engels-Schule i. Sperenberg. 1958 Aufnahme d. Lehre als Maschinenschlosser i. IFA-Autowerk Ludwigsfelde. 1961 Abschluss d. Lehre, Gesellenstück: Hydraulische Anlage f. Schleifmaschinen. 1961–1970 Arbeit als Schlosser u. Mechaniker i. Lehrgeräte- u. Reparaturwerk Mittenwalde. 1970 Wechsel z. Munitionsbergungsdienst d. Volkspolizei, Arbeit a. Hilfskraft, Munitionsarbeiter, Vorarbeiter. Dann Prüfung z. Brigadeleiter und 1983, nach mehrwöchigem Lehrgang, erfolgreiche Ablegung d. Fachprüfung z. Sprengmeister (womit d. Befugnis erlangt war, mit Sprengstoffen umzugehen, Bomben u. alle Arten v. Munition z. bergen u. unschädlich z. machen). 1985 Absolvierung e. Lehrganges f. Führungskräfte, 1986–1991 Übernahme d. Sprengplatzes i. Kummersdorf a. leitender Sprengmeister. Nach d. Wende, 1990/91, weg. d. allgemeinen Nichtanerkennungspraxis von DDR-Qualifikationen, nochmalige Ablegung d. Sprengmeisterprüfung vor einer Prüfungskommission aus Westberlin (mühelos bestanden aufgrund ausgezeichneter Ausbildung, Qualifikation u. d. Berufspraxis). 1992/93 f. 2 Jahre stellvertretender Dienststellenleiter d. Staatlichen Munitionsbergungsdienstes d. Landes Brandenburg i. Potsdam. 1995 Umzug d. Dienststelle n. Wünsdorf/Waldstadt u. Beförderung z. technischen Einsatzleiter West. H.-J. Weise ist einer d. beiden einzigen Sprengmeister i. Brandenburg, die Entschärfungsspezialisten für die gefährlichen Langzeitzünderbomben a. d. II. Weltkrieg sind. Ehrungen u. Auszeichnungen: Mehrmals Aktivist u. Bestarbeiter, Medaille f. treue Dienste. Mitgliedschaften: 1966–1990 Freiwillige Feuerwehr. Ab 1990 Bund deutscher Feuerwerker. Hobbys/Interessen: Tierwelt, u. Munition WK I u. davor. Regelmä ß ige Beitr. i. Informationsblatt für Truppführer (interne Ausgabe d. StMBD-Brandenburg, 6 x pro Jahr). Herr Weise wurde a. 3. 9. 1943 i. Sperenberg geboren. Als Kind wollte er Tischler werden. Sein Vater war Schlosser, die Mutter Schneiderin. Er ist verheiratet u. hat eine Tochter.

Der Luftkrieg und das Abwerfen von Bomben auf die Zivilbevölkerung begann mit dem Ersten Weltkrieg und hat eine Orgie an Vernichtungsmitteln und Vernichtungskraft nach sich gezogen, die ihr Ende bei weitem noch nicht erreicht zu haben scheint. Systematisch und experimentierend wurde der Krieg aus der dritten Dimension heraus damals erst einmal von den Kolonialmächten gegen die aufständische Kolonialbevölkerung eingesetzt. Deutschland hat dann dieses Prinzip des Bombenterrors gegen die Zivilbevölkerung erstmals mitten in der eigenen Zivilisation und auf dem eigenen Kontinent praktiziert. Mit der Bombardierung Guernicas, Warschaus und Coventrys – um nur einige Ziele zu nennen – wurde das Tabu gebrochen, die Vergeltung ausgelöst und zugleich diese neue Brutalisierungsvariante der Kriegsführung legitimiert.

Dass auch die Täter zu Opfern der von ihnen entfesselten Gewalt wurden, ist derzeit Gegenstand heftiger Diskussionen. Eineinhalb Millionen Tonnen Bomben wurden von den Amerikanern und Briten während des Zweiten Weltkriegs über dem Deutschen Reich abgeworfen. Viele davon blieben als Blindgänger im Boden liegen und sind heute, nach fast 60 Jahren, eine unruhig schlummernde, explosionsbereite Hinterlassenschaft des Krieges, um die sich, falls man sie rechtzeitig findet, Bombenentschärfer wie Herr Weise kümmern müssen.

Der zwei Kilometer lange Plattenweg durch den Wald endet vor dem Tor eines eingezäunten Geländes. Eine erbsenfarben angestrichene große Bombe steht am Eingang. Wir werden vom Wachdienst eingelassen ins Gelände des Munitionsbergungsbetriebes, bekommen Ausweise zum Anheften und treffen wenig später auf Herrn Weise, der in grüner Arbeitsuniform bereits auf uns wartet. Er deutet auf einen imposanten Rohbau und erklärt: „Das wird unser neues Sozialgebäude“, derweilen führt er uns ins alte, ein flacher Bau. Die Wände innen sind bis zur halben Höhe mit grauer Ölfarbe gestrichen, wir durchqueren eine große ehemalige Kantine, die Tische sind immer noch mit Wachstischdecken versehen und werden von den Munitionsarbeitern in den Pausen benutzt. Wir nehmen in einem kleinen Büro Platz. Ein Mann arbeitet konzentriert am Computer, Kaffee wird von einer misstrauisch uns fixierenden Frau gebracht. Zwei Stahltresore dominieren den Raum, Aktenschränke und eine Glasvitrine mit Projektilen, Zündern und Munition aus verschiedenen Materialien und Ländern.

„Also, Sie befinden sich jetzt hier auf dem Gelände des zentralen Sprengplatzes für das gesamte Land Brandenburg, es kommt alles hierher, Munitionszerlegebetrieb nennt sich das. Ich bin einer der drei technischen Einsatzleiter für das Land Brandenburg, ich bin normalerweise nicht hier, ich sitze drüben in Wünsdorf, und meine Aufgabe ist die Munitionsbergung, sozusagen. Ich habe fünf Truppführer, fachkundige Leute, die Sprengberechtigung haben und Entschärfungsberechtigung, die sind in den fünf Großkreisen, für die ich zuständig bin, stationiert. Uns gab es als Betrieb ja schon zur DDR-Zeit, seit den 50er-Jahren, und ich bin nun schon 32 Jahre dabei. Damals wie heute haben wir die Hinterlassenschaften des Ersten und Zweiten Weltkrieges zu bergen, und nach der Wende kamen dann ja noch die Truppenübungsplätze der Russen dazu. Zu DDR-Zeiten haben wir im Schnitt 2.000–3.000 Tonnen im Jahr geborgen, und nach der Wende ist das gleich schlagartig nach oben gegangen, wir liegen jetzt im Schnitt bei 350–400 Tonnen jährlich, also direkte Kampfmunition, die scharf ist. Und dann kommt ja noch der Munitionsschrott dazu, wo noch Anhaftungen dran sind, das wären noch mal 200–300 Tonnen. Die im Vergleich zu anderen Bundesländern hohe Tonnage kommt daher, dass das Land Brandenburg eines der meist umkämpften Gebiete im Zweiten Weltkrieg war, denken Sie nur an die Schlacht um Berlin, um Halbe …“

„Seit einiger Zeit haben wir die Bombenbeladungsunterlagen zur Verfügung und die Luftbildaufnahmen, wir wissen, was man über gewissen Gebieten abgeworfen hat, und können so mit 10–15 Prozent Blindgängern rechnen, aber es gibt natürlich immer eine Dunkelziffer. Wir haben eine Kampfmittelbelastungskarte erstellt fürs Land Brandenburg, und jedes Ordnungsamt hat so eine Karte bekommen, die ständig auf den neuesten Stand gebracht wird.“

Man findet ja Munition aller Kaliber, und die ist in ganz verschiedenem Zustand, je nach der Bodenbeschaffenheit, im Mutterboden, der feucht ist, rostet das Metall schneller, aber hier in unserem märkischen Sandboden, der trockener ist, da rostet es nicht so leicht, ich kann Ihnen Granaten zeigen, die 60 oder 80 Jahre lang im Boden lagen, da brauchen Sie nur ein bisschen mit dem Finger reiben, der Rost ist ab, die Granate ist blank. Bei Bomben und Granaten ist es so, wenn der Zünder beim Einschlag in den Boden nicht beschädigt wurde, dann ist der heute noch intakt, deshalb sind sie so gefährlich. Also man kann sagen, jede Munition, die verwahrlost ist, die keinen Eigentümer hat, ist gefährlich! Und der Sprengstoff selber, der ist giftig, für den Menschen jedenfalls, er greift die Leber an. Aber es gibt Ameisen, die fressen TNT sehr gerne, es ist Zucker drin. Ich hatte auf der Schießbahn mal eine aufgeplatzte Eierhandgranate zu einem Ameisenhaufen gelegt durch Zufall, wir kamen die Sachen abends einsammeln und da war eine Riesenmenge Ameisen drauf und die haben gefressen.“

„Und der Sprengstoff hat auch noch eine Düngerwirkung, da wachsen sehr gerne zum Beispiel Brennnesseln. Man sieht, wenn auf einem Schlachtfeld ein großer Kreis Brennnesseln steht – das hat mir mal ein alter Sprengmeister gesagt –, dass da mal ein Bombentrichter war, da ist was hochgegangen. Und hochgehn kann natürlich das, was jetzt noch in der Erde liegt, irgendwann … sagen wir mal eine Panzermine, 1/2 Meter in der Erde, wenn die detoniert, macht die im Umkreis von 100–200 Metern ziemlichen Schaden, Personenschaden auf jeden Fall, die würde einen Trichter von bestimmt 1 1/2 Meter Tiefe bringen. Und zum Beispiel eine 5-Zentner-Bombe, die vielleicht 4 Meter in der Erde liegt, wenn die detoniert – die Erfahrung haben wir – bildet sich ein Krater so um 10–14 Meter im Durchmesser, 4–5 Meter tief, und im Umkreis von vielleicht 500–600 Metern – wenn welche da wären – würden die Scheiben rausfliegen, und der Splitterflug geht manchmal über einen Kilometer weit. Das ist schon sehr gefährlich. Darum muss die Arbeit auch gemacht werden, und zwar von Menschen, Roboter können das nicht oder höchstens irgendwo im freien Gelände, wo eine Explosion nicht so schlimm ist. Es ist menschliche Erfahrung nötig und viel Fingerspitzengefühl. Der kritische Moment erstreckt sich von dem Zeitpunkt, wo man das Fundstück freilegt, bis zur Unschädlichmachung, dazwischen kann alles passieren. Trotzdem hatten wir hier in über 50 Jahren nur zwei Todesfälle, einen 1972 und der zweite war am 24. November 1993 um 11.05 Uhr … da ist er hier gestorben, beim Fertigmachen der Granaten für die Vernichtungsanlage, wo sie zerschnitten werden …“

„So“, sagt Herr Weise und erhebt sich, „Ich zeige Ihnen jetzt unser kleines Museum – also das ist unser Lehr- und Anschauungsraum, den wir hier für Schulungszwecke haben.“

Wir durchqueren die inzwischen etwas belebtere Kantine und betreten einen großen Raum, der gespickt ist mit zylindrischen Geschossen in allen Größen, schlank und bauchig, poliert oder mit Korrosionsspuren, Bomben, Granaten, Minen, Raketen. Eine auffallende Tür in orientalisch geschwungenem Schnitt passt nicht so recht ins Bild, an der Wand hängt eine Uhr aus Messing. „Das war unser Kulturraum früher, 1. Mai, 8. März …“, erklärt Herr Weise nebenbei, „die Uhr, die kenne ich noch gar nicht, die hat jemand gemacht aus einem Kartuschenboden … Gut, hier ist also die Munition, die überwiegend hier in Brandenburg so gefunden wird, immer ein Originalstück und ein Schnittmodell, um die Kollegen daran auszubilden, das ist die Anatomie sozusagen.“

Er deutet auf die Vitrinen, in denen kunstvolle Gebilde aus glänzendem Messing, Glas, Bakelit, Aluminium liegen, „das sind Zylinder, die Engländer haben meist Messing benutzt, die Amerikaner sind von Messing zu Eisen übergegangen, die Deutschen haben nur im Ersten Weltkrieg Messing genommen, später Eisen oder Aluminium aus Ersparnisgründen, also eine Legierung, die billiger war, das Aluminium-Dual, und der aus Bakelit, das ist ein russischer. Ja, jedes Land hat seine, aber das Prinzip gleicht sich, nur der eine hat eben Sicherungsfedern, der andere Sicherungssplinte oder irgendwelche Stifte eingebaut Und das da ist eine russische Panzermine, schon aus Plaste, die findet man einfach nicht. Sehn Sie, dort an der Wand, das sind zwei Minensuchgeräte, das sind jetzt Förster-Sonden, Westgeräte!! Die haben wir zu DDR-Zeiten schon gehabt, die haben damals so viel gekostet wie ein Wartburg, 30.000 DM ein Gerät. Sie zeigen wirklich gut an. Es gibt alle möglichen Geräte, aber keines davon zeigt an, ob da nun eine Granate liegt oder eine Kanalisation oder was, da braucht es Erfahrung und Kartenmaterial. So, jetzt gehen wir mal raus ins Gelände, damit Sie den Sprengplatz sehen und die Vernichtungsanlage.“

Wir treten hinaus in die Kälte. Schüttere Birken stehen im Sandboden, Arbeiter in blauen Monturen gehen herum, die wassergefüllten Gräben haben eine Eisschicht, in der Blätter und Äste eingeschlossen sind. „Der Sprengplatz hat insgesamt so 28–30 Hektar. Das da sind übrigens wassergefüllte Entlastungsgräben, um unsere Gebäude zu schützen. Wenn gesprengt wird, entstehen Schallwellen, also die Detonationswelle kommt unterirdisch bis hierher und wird dann schlagartig abgebaut.“

Ein Mann vom Sprengplatz begleitet uns nun, er ist der Verantwortliche für die Einlagerung der Kampfstoffe, geht ein wenig abseits und erklärt ab und zu etwas. Die Munitionsvernichtungsanlage besteht aus bunkerartigen, aber irgendwie dünnwandigen Gebäuden, die hinter einer gut gesicherten Absperrung liegen. In fensterlosen kleinen Räumen stehen Sägen und Schneidegeräte mit Einspannvorrichtungen, wo die Munition automatisch und per Monitorüberwachung zerteilt wird. Es ist tadellos sauber, kein Stäublein bedeckt den Boden. „Das gehört alles zu den Sicherheitsvorschriften“, sagt Herr Weise“, der Sprengstoff schlägt sich ja beim Sägen hier überall nieder und wird am Schluss dann mit einem Staubsauger mit Wasser weggesaugt. Beim Schneiden läuft übrigens auch immer Kühlwasser mit, zwar braucht der Sprengstoff … äh … bestimmt tausend Grad, um zur Detonation zu kommen, aber sicher ist sicher! Und sollte dann doch mal was passieren, dann sehn Sie, hat man mit der Bauweise der Gebäude schon vorgesorgt: Es gibt stabile Wände und ein leicht wegzusprengendes Dach. Munitionsbunker sind immer so gebaut, dass eine Wand gemauert ist, und die gibt sozusagen die Ausblasrichtung vor.“

Wir treten wieder hinaus, und beim Verlassen der Anlage bleibt Herr Weise plötzlich an einer unscheinbaren Stelle stehen und sagt etwas heiser: „Hier übrigens stand der Mann und wollte das grade reintragen und dann …“

Wir gehen eine kurze Strecke und biegen zu einem großen Geviert ein, das von birkenbewachsenen Erdwällen umgeben ist. Der Sand wirkt grau. Im gefrorenen Boden stecken größere und kleinere Metallsplitter. Wir sind auf dem Sprengplatz, wo man in kleinen Gruben die scharfe Munition aufschichtet und dann zur Sprengung bringt. „Der Verantwortliche weiß ganz genau, er hat zum Beispiel 10 Löcher hier, also muss es zehnmal knallen, und er hört, ob der Schuss gut gekommen ist oder nicht – das wird ja elektrisch von der Ferne ausgelöst, vom Zündbunker aus. Und danach wird dann hier alles abgesucht nach den Teilen, so, und dort drüben sind jetzt die großen Stahlcontainer, wo der gesamte Schrott sortiert und zur Abholung durch den Schrotthändler gesammelt wird. Sehn Sie, da liegt ehemalige Munition aus allen Regionen, aus allen Zeiten drin, das war beispielsweise eine Bombe“, er zeigt auf ein dickwandiges Eisenteil, „und das sind die berühmt-berüchtigten Rohre von den Panzerfäusten, Zweiter Weltkrieg, die sie hier so über der Schulter hatten beim Abschuss …“

Auf einem der Container steht ein Schild mit der seltsamen Aufschrift ZIVILBLECH. „Das sind Fässer, ein Stück von einem Dach …“, erklärt Herr Weise und führt uns zu einer langen Reihe großkalibriger Geschosse, die auf dem Boden aufgereiht liegen wie eine „Strecke“ erschossenen Wildes nach der Treibjagd. „Hier haben wir den zweiten Teil unserer Lehrsammlung, die sind zu groß für drinnen, eine Rakete, ein Torpedo, Granaten. Hier ein ganz berühmtes Geschoss, Zweiter Weltkrieg, Kaiser-Wilhelm-Geschoss, Pickelhaube nannte man das. Na ja, und dann Bomben, Bomben, Bomben, das waren alles Blindgänger, ich erkläre Ihnen das nachher noch genauer, das mit den Blindgängern. Jetzt zeige ich Ihnen noch die Munitionshalle und dann fahren wir zu mir nach Hause.“

Hinter einer großen blauen Eisentür mit gelbem Gefahrenschild erstreckt sich eine weitläufige Halle. Unter fahlem Neonlicht lagern in stabilen hölzernen Munitionskisten mit kyrillischer Aufschrift die Munitionsfunde. Manche sind in Sand gebettet und sehen aus wie Wintergemüse. Die großen Granaten und Bomben stehen etwas separat. „Das ist hier alles zwischengelagert zur Vernichtung“, erklärt Herr Weise, seine Stimme hat ein starkes Echo.

„Im Winter bei Frost sprengen wir ja nicht, wir dürfen 30 Tonnen Netto-Explosivmasse hier lagern, also 30 Tonnen Sprengstoff. Das da sind übrigens Bomben aus Oranienburg, was Sie hier vor sich sehen“, er tritt kumpelhaft gegen eine der beiden fast mannshohen, dickleibigen Eisenkolosse, „die habe ich am 12. Dezember in Oranienburg entschärft, beide an einem Tag. Es sind amerikanische. Und das hier sind übrigens Wasserminen, deutsche! Die wurden zum Kriegsende zweckentfremdet eingesetzt an Autobahnbrücken zwischen Oder und Berlin, um die Brücken, wenn der Russe kommt, zu sprengen. Aus irgendeinem Grund ist das nicht zustande gekommen, und erst jetzt, bei Baumaßnahmen an der A 9, hat man die Bomben gefunden, die sind alle beide noch scharf.“

Herr Weise wohnt in der ehemaligen NS-Reichs-Arbeitersiedlung – die wir ja schon kennen – schräg vis-à-vis vom einstigen Nazi-Versammlungshaus, in dem zu DDR-Zeiten eine Kneipe war. Seit hier alles geschlossen ist, stagnieren die alten Grabenkämpfe zwischen Genossen und Nichtgenossen, die Don-Camillo-und-Peppone-artigen Konflikte existieren weiter, werden aber kaum noch ausgetragen. Man sieht sich nicht mehr, jeder lebt für sich, in seiner Reihenhaushälfte, und fährt für sich in seinem Auto am anderen vorbei.

Herrn Weises Haushälfte ist eine der herausgeputztesten in der ganzen Reihe. Alles ist erneuert, die Haustür hat geschwungene Butzenscheiben, und das Wohnzimmerfenster ist größer, als das aller anderen Häuser. Gerade ist das Fleisch- und Wurstwarenauto aus Luckenwalde auf den Platz gefahren, die einzige Gelegenheit für die Leute, hier im Ort etwas einzukaufen. Wir werden nach hinten geführt durch den Garten, in dem Nussbäume stehen. Die Terrasse ist groß, überdacht und mit Grillkamin ausgestattet. In einem Anbau hat Herr Weise sein kleines, wohlgeordnetes Reich, eine Art Arbeitshäuschen.

Es ist angefüllt mit Regalen und Ordnern. Andenken, Embleme ausländischer Feuerwerker, Panzermodelle, Munitionsteile und antike Waffen sind zu sehen, dazwischen hängen die Bombenfotos, die den Meister nach der Entschärfung mit Bombe zeigen, die wie ein toter Fisch am Bagger hängt. Dazwischen ein Zeitungsausschnitt mit der Schlagzeile „Jubiläumsbombe lag zwischen Tankstellen“. Es gibt einen Computerarbeitsplatz, mit Scanner für die Bombenfotos, und einen kleinen HiFi-Turm samt CD-Sammlung für die Entspannung. Wir nehmen auf einer Couch Platz, unser Gastgeber bringt Kaffee.

„Na ja, ich dokumentiere alles, so weit es geht. Hier habe ich übrigens zwei Ordner stehen vom Schießplatz, die hatte ich mal dem Vorsitzenden von der Bürgerinitiative angeboten, er war ganz interessiert, aber gekommen ist der nie! Ich bin da ja nicht mit drin in dem Bürgerverein, weil da Leute drin waren … na ja, egal, und ich war ja Genosse, hier bei der Polizei oder beim Sprengkommando waren alle Genossen.“

Wir wechseln das Thema, Herr Weise erzählt von seinen Kontakten zu ausländischen Munitionsräumern, die dort deutsche Geschosse bergen: „Ich war schon fast überall, wo Kriegslinien und Schlachtfelder waren. Die vom Ersten Weltkrieg waren ja auch sehr brutal, als das anfing, mit dem Gaskrieg. Ypernbogen, ganz berühmt. Ich war da, drei Wochen lang, mit meiner Frau. Auf dem Bauernhof hatten wir ein Zimmer gehabt, und ich habe mir das alles angeguckt, hatte sogar jemanden zur Verfügung vom Kampfmittelräumdienst. Da kommen heute noch Weihnachtskarten, und es gab auch Treffen zum Barbara-Fest.“ (Barbara gilt unter anderem als Schutzheilige der Artillerie und wird auch als eine der 14 Nothelfer um „Schutz vor jähem Tod“ gebeten; Anm. G. G.) „Und ich habe mir in Frankreich die ganze Maginot-Linie angeguckt.“ Für einen ganz kurzen Moment gerät er in eine geradezu schwärmerische Stimmung“, Verdun waren wir auch, aber Dünkirchen ist auch noch ganz schau … also für mich ist es das!“

Wir kehren zum Thema Bombenentschärfung zurück: „Na ja, meine Frau hat sich daran gewöhnt, was soll sie machen. Das ist eben mal meine Arbeit. Ich bin ja sozusagen Experte für Langzeitzünderbomben, und an denen ist am gefährlichsten, dass sie eine Ausbausperre haben. Also die haben sich ganz schön was einfallen lassen. Als die Amerikaner gemerkt haben im Zweiten Weltkrieg, dass die Deutschen – nach einigen tödlichen Entschärfungsversuchen – die Langzeitzünder überwinden konnten, haben sie eine neue Methode eingeführt und Stifte eingesetzt. Da konnte man dann nicht mehr einfach alles mit der Zünderbuchse rausdrehen, da konnte man normalerweise gar nichts mehr machen, nur sprengen. Bis jetzt hatten wir immer Glück, die Stifte haben gefehlt. Wir nehmen an – weil ja die Stifte mit der Pinzette eingesetzt werden mussten von den Leuten, die die Zünder einschraubten und die Bomben scharf machten auf dem Flugplatz –, dass denen das zu blöd war im Frühjahr, mit kalten Händen. Also haben sie die Stifte Stifte sein lassen. Es wurde erst eine einzige Bombe gefunden mit Stift.“

Wirklich erschreckend ist nach so vielen Jahren die Arbeit ja nicht mehr. Die russischen Bomben allerdings haben da eine Eigenart. Beim Einschrauben der Zünder haben die Russen wahrscheinlich einfach eine Handvoll Fett ins Gewinde geklatscht. Beim Einschrauben muss ja die Luft irgendwo hin, also ist sie nach hinten rausgedrückt worden. Und wenn jetzt die Bombe 50, 60 Jahre in der Erde liegt, man holt sie raus, macht sie sauber, dreht den Zünder mit der Rohrzange an … macht dann mit der Hand weiter, und da entsteht beim Drehen innen ein kleines Vakuum, und irgendwann ist dann der Unterdruck so groß, dass er richtiggehend saugt, man merkt’s beim Drehen, und plötzlich zischt die Luft da rein und es gibt ein unheimliches, schlürfendes Geräusch. Stellen Sie sich das vor, ich muss ganz ruhig bleiben und erschrecke mich aber zu Tode. Ich hab’ hier die Haare …“, er entblößt seinen Arm, „die haben sich alle aufgestellt. Man erzählt es immer wieder, aber jeder vergisst es in dem Moment. Man nimmt überhaupt alles wahr, auch wie das von innen heraus riecht. Bomben riechen verschieden. Bomben, die aus der Wiese kommen oder aus dem Humusboden, die riechen moderig, mehr faulig. Das ist ein ganz blöder Geruch. Die Bomben, die hier in Oranienburg im Boden liegen, die riechen überhaupt nicht. Überhaupt die Bomben in Oranienburg, davon ging die Hälfte sehr leicht, weil die Gewinde sehr gut waren und weil die Bomben im Wasser liegen. Im Grundwasser. Oranienburg hat Grundwasser im Schnitt bei 1/2 bis 3/4 Meter, es gibt auch Stellen, wo es erst ab 3 Meter kommt Und dann gibt es eine Torf- und eine Kiesschicht, weil da vor Jahrmillionen ein eiszeitliches Flussbett lag, wahrscheinlich war die Spree drei Kilometer breit. Und die Bombe hat die Torfschicht durchschlagen, ist auf den harten Flusskies aufgekommen, hat sich da gedreht und wurde wieder nach oben geleitet. Dadurch liegen sie alle mit der Spitze nach oben, und so wurden sie alle zu BLINDGÄNGERN!“

„Das hat der Engländer nicht mitberechnet, das Kiesbett. Eine normale Bombe funktioniert ja so, dass sie detoniert, wenn sie in die Erde fällt, denn der Zünder ist so gemacht, dass eine innenliegende Acetonampulle zerdrückt wird, die Flüssigkeit tritt aus, fließt nach vorne und löst die Zelluloidhülle auf, die den vorgespannten Schlagbolzen im Zünder umschließt. So sollte es funktionieren. Wenn aber die Bombe mit der Spitze nach oben stecken bleibt, dann fließt das Aceton nach hinten und die Zelluloidhülle bleibt unversehrt. Die amerikanischen Langzeitzünder funktionieren nach dem gleichen Prinzip, nur sind da die Zelluloidhüllen dicker, denn je dicker die ist, um so länger dauert’s bis zur Detonation. Diese Bomben sollten die Leute demoralisieren, erst nach gewissen Stunden detonieren, wenn niemand mehr damit rechnet.“

„Das war die Aufgabe dieser Bomben. Und diese Zünder haben auch eine Ausbausperre drin, wenn man die, sagen wir, um einen Millimeter überschätzt, dann explodiert der. Also die Bomben mit Langzeitzündern sind saugefährlich, sie entzünden sich alle alleine, sie gehen hoch! Da kann noch einiges passieren im Laufe der Zeit. Sie sind wie Uhrwerke, irgendwann kommen die. Der Bund müsste sich da viel mehr in der Verantwortung sehen und sich darum kümmern! Die Bomben, die ich jetzt im Dezember gemacht habe, davon lag eine im Keller unter einer Wohnhausanlage, die haben wir durch Luftbildauswertung gefunden. Dann wurde also erst mal von einer Firma ein so genannter Senkkasten erschütterungsfrei mit einer hydraulischen Presse in den Boden eingedrückt, das ist ähnlich wie ein Brunnenschacht. Das Grundwasser muss langsam abgesenkt werden, und dann sehe ich, die Bombe ist 1,30 lang, ich hab’ zum Entschärfen einen Durchmesser von ca. 2,50 Meter. Dann wird von einem Kollegen mit Sandstrahl hinten erst mal sauber gemacht und der Zünder freigelegt. Zu diesem Zeitpunkt ist natürlich im Umkreis von einem Kilometer oben alles gesperrt, die Leute sind evakuiert und dürfen erst wieder zurück nach dem Sirenensignal. Wenn der Zünder freiliegt, sehe ich gleich, ah, Langzeitzünder. So, und dann beginnt die Arbeit für mich, die Ausbausperre muss überwunden werden, da braucht’s enormes Fingerspitzengefühl, und dann machen wir eine Seilscheibe dran. Normalerweise wird die dann aus der Entfernung, über Monitor, rausgedreht. Die kritische Arbeit ist das Lösen der Sperre, das muss manuell gemacht werden, man muss es sozusagen in der Hand haben, ich kann keine Maschine zum Stillstand bringen, ohne dass sie einige Millimeter nachläuft oder mit einem Ruck anhält.“

Herr Weise holt einen seiner Ordner, blättert und zeigt Fotos, auf denen er in einer Grube zu sehen ist zusammen mit der Bombe. „Hier in diesem Fall war es so, dass bei der ersten, zweiten Umdrehung mit der Seilscheibe das Gewinde geklemmt hat, normalerweise geht das so, dass nach maximal 11 Umdrehungen die Seilscheibe mit dem Zünder zusammen herausfällt. Hier hat’s nicht funktioniert, also habe ich ihn mit der Hand herausgedreht – da fotografiere ich jeden Schritt, 3. Umdrehung, 6. Umdrehung … bis zur 11., das dauert so etwa 10 Minuten, und jedes Mal bringe ich den Fotoapparat nach oben und wieder runter, denn wenn er unten ist und es knallt, hat keiner was von den Bildern. An der Stelle muss ich noch dazu sagen, dass wir eine Vorschrift haben, die lautet, Sprengen VOR Entschärfen, das lässt sich aber in dicht bebauten Gebieten natürlich nicht machen, und über uns war ein großes Wohnhaus. Im Prinzip gibt’s mehrere Varianten, man kann die Bombe auch ein bisschen transportieren, indem man U-Eisen hinlegt, mit Fett beschichtet und das Ding dann ganz weich rutschen lässt, aber es ist natürlich ein Risiko, und es dauert … man könnte sie rausholen, ein Loch machen und sie draußen sprengen, dann wäre immerhin noch das Haus ganz … Aber ich habe mich dann doch anders entschieden und Glück gehabt. Na gut, es war also geschafft, der Zünder ist draußen, wird auseinander genommen, und ich seh nach, ob er scharf war – der war in dem Moment scharf. Es wird alles fotografiert, die Bombe wird an den Haken gehängt, sie kann nun geborgen werden, das heißt, die Kollegen können sie raufziehen aus dem Loch mit dem Flaschenzug. Danach geht die Sirene, und ich schreib’ mir das alles auf im Buch. Nachher ist ja die Hektik so groß. Dann rufe ich an: meine Frau, meinen Vorgesetzten, das Innenministerium. In dieser Reihenfolge. Ich sollte eigentlich zuerst das Innenministerium anrufen. Und ansonsten muss ich ein Entschärfungsprotokoll schreiben mit drei Bildern: Fundort, Bombe gefunden, Bombe entschärft. Aber was ich hier in den Ordnern dokumentiert habe, das ist meine private Dokumentation sozusagen, Sie sehen ja, das sind die ganzen Ordner von Oranienburg, 1, 2, 3, 4, 5 … sechse sind es schon. Jede Bombenentschärfung habe ich genau dokumentiert. 272 Mal. Und die Dokumentation wollte ich eigentlich, wenn ich bald in Rente gehe, dann wollte ich die eigentlich der Dienststelle zur Verfügung stellen für Lehrzwecke.“

Herr Weise stellt die Ordner wieder zurück, er scheint gern alles in eine geregelte und jeweils abgeschlossene Ordnung zu bringen, sodass es jederzeit als geregelter Nachlass vorgefunden werden kann. Wir fragen, ob er sich noch an jede Bombe erinnern kann. Sein Ja kommt sofort und ohne Zögern. Er fügt hinzu: „An jede einzelne!“